Über mehrere Jahre missbrauchte ein Turntrainer seine Mädchengruppe in Weimar. Vor sechs Jahren begann nun der Prozess gegen den Täter und Ex-Polizisten. Doch die Frauen fanden zu einer anderen Waffe: Sie bildeten ein Kollektiv und solidarisierten sich miteinander. Perspektive konnte ein Interview mit einer von ihnen, Clara Schroder, führen.
Hallo Clara, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, das Interview mit uns zu führen. Mitte Mai erschien auf dem Medienkanal „STRG+F“ die Reportage „Missbrauch im Turnverein: Wie Betroffene sich wehren“. Du selbst bist auch eine Betroffene. Was hast du nach Ausstrahlung der Reportage empfunden?
Ich fühle mich total gut, dass die Reportage nach einem Jahr Warten veröffentlicht werden konnte. Ich bin auch sehr glücklich, dass STRG+F das Thema aufgegriffen hat, weil medial dazu nicht so viel passiert ist. Lediglich ein paar lokale Zeitungen hatten darüber berichtet. Nicht nur unsere Geschichte, sondern auch das Thema selbst wird in den Medien viel zu sehr vernachlässigt. Viele Menschen, denen sowas ähnliches wie uns passiert ist, können dadurch leider noch keinen Umgang damit finden. Die Reportage zeigt gut, dass man sich nicht verstecken muss bei einem Thema, was so viele Menschen, aber vor allem Frauen, selbst erlebt haben.
Für viele Personen von außerhalb ist es eine gute Reportage, aber für mich fehlt die Aufarbeitung zur Stigmatisierung von Opfern sexueller Gewalt und, dass der Zusammenhalt unter uns Frauen nach dem Prozess nicht thematisiert worden ist. Leider fehlt auch, dass der Typ immer noch frei rumrennt und auf YouTube MineCraft zockt. Er muss keine Therapie machen, so wie wir, und hat immer noch keine Reue gezeigt.
Die Reportage erschien knapp nach dem Urteil des Gerichts. Würdest du sagen, dass das Thema jetzt abgeschlossen ist?
Abgeschlossen werde ich damit nie haben. Es ist eher, wie ein Schuhkarton, der auf dem Schrank steht. Du siehst ihn – nimmst ihn mal mehr oder weniger wahr. Ich werde die Geschichte also immer mit mir rumtragen. Jetzt gerade ist es natürlich intensiver: Da war vor kurzem der Prozess in Erfurt und nun die Reportage. Ich werde es später meinem Partner erzählen und meinen Kindern erzählen müssen. Außerdem ist der Gerichtsprozess immer noch nicht abgeschlossen, weil der Täter in Revision gegangen ist. Somit werden wir immer wieder Briefe von der Staatsanwaltschaft erhalten.
Schwierig ist aber vor allem die Stigmatisierung im Nachhinein. Menschen, die der Meinung sind, dass ich, als Opfer sexuellen Missbrauchs, nun sehr traurig sein müsste. Das stimmt aber nicht! Ich bin ein total herzlicher, lockerer und lustiger Mensch. Wir Betroffene können traurig sein. Wir können wütend sein. Wir können lustig sein. Wir können auch lange heulen. Wir können lachen. Dadurch ist es für mich weiterhin das Schwerste, sich einem Menschen anvertrauen, denn die Angst des Stigmas ist da.
Wie lief das gerichtliche Verfahren ab?
2018 war der erste Prozess mit 82 Fällen. Jetzt, beim zweiten Prozess, waren es nur noch 20 Fälle. Das lag an einem Verfahrensfehler seitens des Gerichts. Es lag auch daran, dass viele Betroffene als Zeug:innen nicht gehört werden sollten, damit sie kein weiteres Trauma erleben. Das war am Ende eine Absprache zwischen der Nebenklage und der Staatsanwaltschaft. Ob die Frauen wirklich nicht hätten aussagen können, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall wurden die Frauen zwischen den Prozessen nicht angerufen oder gefragt.
Das Gericht urteilte jetzt, dass der Täter für drei Jahre und zwei Monate hinter Gitter muss, wobei zwei Monate schon als abgegolten zählen. Es ist unfair, ungerechtfertigt, erniedrigend und beschissen! Die Dunkelziffer der Frauen ist wahrscheinlich viel höher. Immer mehr Frauen melden sich auch jetzt noch. Stellt euch vor, jeder dieser Fälle hätte ein halbes Jahr Gefängnis bedeutet … Es ist einfach super ungerecht! Wir beschäftigen uns ja auch nicht erst seit gestern mit diesem Fall und dem Prozess. Vor über 10 Jahren wurde ich missbraucht und werde wohl die nächsten 50 Jahre damit zu tun haben. Ich muss fast mein ganzes Leben damit zurechtkommen und der Typ hat es bis heute nicht verstanden.
Trotzdem würde ich den Schritt der Anzeige immer wieder machen. Auch wenn ich nach dem Urteil zornig und wütend bin. Da muss man sich auch mal überlegen, dass jede zweite Frau in Deutschland schon Mal Opfer sexualisierter Gewalt geworden ist. Das demoralisiert doch die Opfer, auch eine Anzeige zu machen, wenn die sehen, dass wir sechs Jahre lang mit dem Gerichtsprozess leben müssen. Darauf hat doch niemand Bock, wenn da am Ende drei Jahre Strafe rauskommen.
Du sagtest, dass sich immer mehr Betroffene gemeldet haben. Seid ihr solidarisch miteinander?
Der Typ hat uns damals gegeneinander ausgespielt, sodass wir nicht einmal untereinander über die Taten geredet haben. Die meisten von uns haben sich beim ersten Prozess zum ersten Mal wiedergesehen. Wir haben uns connected, miteinander viel telefoniert, getroffen, besucht und uns beispielsweise in der Nebenklage unterstützt. Wir sind also wieder miteinander verbunden. Unseren Zusammenhalt, den er damals zerstört hatte, den haben wir uns wieder zurückgeholt.
Durch die Reportage und den Gerichtsprozess kommen immer mehr Betroffene auf uns zu. Sie melden sich meist über die sozialen Medien bei uns und geben uns Mut: „Toll, dass ihr das gemacht habt!“ oder „Ich bin auch betroffen, was kann ich da machen? Soll ich den nochmal anzeigen?“. Ich merke aber auch, dass wir alle unterschiedliche Stadien der Aufarbeitung haben. Manche sind schon etwas weiter und machen ein Interview bei einer Reportage und andere beginnen gerade einzusehen, dass sie missbraucht worden sind. Zeitgleich merke ich auch, dass darüber reden total viel hilft.
Das Patriarchat ist älter als der Kapitalismus. Was denkst du muss geschehen, um dieses Unterdrückungsverhältnis auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen?
Wie schon gesagt finde ich es auch wichtig, die Sachen erstmal zur Anzeige zu bringen. Nur so kann es überhaupt sein, dass das Strafmaß irgendwann mal höher gesetzt wird. Ebenso, dass die Täter überhaupt eine Therapie machen müssen. Jede Betroffene muss sich überlegen, ob eine Therapie helfen kann. Ich selber kann sagen, dass sie mir geholfen hat, aber das muss jede betroffene Person für sich selber entscheiden. Gleichzeitig müssen Vereine und Institutionen besser überwacht werden.
Erwachsene dürfen nicht weggucken und müssen sensibilisiert werden, darüber zu sprechen und das Thema zu enttabuisieren. Kinder müssen besser aufgeklärt werden. Hier geht’s vor allem darum, wie sich Kinder verhalten können, wenn ihnen etwas komisch vorkommt oder sie unsittlich angefasst werden.
Es braucht Gruppen, Organisationen und Demonstrationen. Es ist wichtig, dass wir laut werden! Es ist wichtig, dass wir Gesicht zeigen! Mir haben die Kommentare unter dem Video Mut zugesprochen. Es war toll, wie viele Leute, die ich nicht kenne, sich solidarisch mit uns Frauen zeigen. Die Leute empören sich auch, dass er so wenig Jahre bekommt, dass er frei rumläuft und vieles mehr. Wir werden immer mehr die kämpfen und uns zusammenschließen – und das müssen wir auch!