Kapitalverbände blicken zufrieden auf die letzten 20 Jahre mit dem „System Hartz“ zurück und planen die nächsten Angriffe. Das Institut der deutschen Wirtschaft fingiert eine Agenda 2030 und gibt sich zuversichtlich. Das gilt es zu verhindern. – Ein Kommentar von Olga Wolf.
Am 14. März 2003 erklärte der damalige Bundeskanzler Schröder bei Amtsantritt, die „Agenda 2010“ umzusetzen. Grüne und SPD unterstützten den Leitantrag mit großer Einigkeit, ein Mitgliederbegehren in der SPD scheiterte.
Maßgeblich mitgestaltet wurde diese politische Reform von der Bertelsmann Stiftung, einem der bedeutendsten Think Tanks des deutschen Kapitals. Der „Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung“, den die Stiftung zusammenstellte, liest sich im Nachgang wie eine Wunschliste, die die Regierung Schröder gern erfüllte.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Kapitalist:innenverbände jetzt zufrieden auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicken und eine neue Wunschliste schreiben. Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor und Präsidiumsmitglied des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), nennt die Agenda eine „beispiellose Erfolgsgeschichte“. Nun bräuchte es dringend weitere Reformen, etwa die 42-Stunden-Woche.
Weniger Arbeitslose, mehr Armut trotz Arbeit
Den Meinungsartikel schmückt eine Grafik, die simpler nicht sein könnte. Zehn blaue Strichpersonen symbolisieren die gravierende Arbeitslosigkeit im Jahr 2003, fünf petrolfarbene Strichpersonen symbolisieren, dass die Zahl der Arbeitslosen auf 2,4 Millionen sank.
Dass die Zahl der Arbeitslosen tatsächlich gesunken ist, daran besteht kein Zweifel. Was aber machen jetzt diese 5 Symbolpersonen, die nicht mehr arbeitslos sind? Sie könnten sich beispielsweise von Fristanstellung zu Fristanstellung hangeln, das machte die Agenda 2010 möglich. Oder sie üben in unterfordernden Qualifizierungsmaßnahmen, was sie vorher schon wussten, und kommen so in keiner Statistik mehr vor.
Die Situation der 2,4 Millionen Arbeitslosen hat sich derweil drastisch verschlechtert: Sie erhalten im ALG-II-Bezug einen monatlichen Satz, der kaum die mindesten Bedürfe deckt. Zusätzlich müssen sie Sanktionen fürchten, die zuweilen behördlicher Willkür unterliegen. Und die Agenda 2010 hat vollendet, was seit Jahrzehnten im Gange war: Armut ist beschämend.
Demographischer Wandel: Mehr Alte, weniger Beschäftigte
Der demographische Wandel bedeutet mehrere Herausforderungen: Immer mehr Menschen leben immer länger von ihren Renten. Das IW und seine Tochterorganisation INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft GmbH) suggerieren mit einfachen Rechenbeispielen, dass eine Erhöhung des Renteneintrittsalters die einzige Lösung sei. Wenn Erwerbs- und Rentenjahre die einzige Stellschraube der Rentenkassen wären, könnte das stimmen – dem ist aber nicht so. Wir können zahlreiche Stellschrauben benennen, die nicht nur mehr Sicherheit im Alter bedeuten, sondern auch der Umverteilung von unten nach oben entgegenwirken würden. Die Beitragsbemessungsgrenze wäre ein erster, offensichtlicher Ansatzpunkt.
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft kultet die Errungenschaften Schröders ab, das ist ihre Funktion. Sie jagt völlig aus der Zeit gefallenen Ideen hinterher und führt den unbeirrbaren Glauben an Kapitalismus und Märkte ad absurdum, wenn sie fordert, die Jahresarbeitszeit zu erhöhen und mehr Anreize für Alleinerziehende zu schaffen, in Vollzeit zu arbeiten. In der aktuellen Phase absoluter Prekarisierung eine 42-Stunden-Woche zu fordern, ist jedoch nicht nur verbohrt, sondern auch mutwillig.
Dem Fachkräftemangel entgegenwirken
Die „Agenda 2030“ soll eine der drängendsten Fragen in der BRD lösen: Die Anzahl der Personen im Erwerbsalter wird in den kommenden Jahren spürbar geringer. Eine Entwicklung, mit der die BRD keinesfalls allein dasteht. War es zu Zeiten der Agenda 2010 die Arbeitslosigkeit, ist Fachkräftemangel das Buzzword der Agenda 2030.
Einige Unternehmen, Regionen und sogar Staaten diskutieren und erproben derzeit die 4-Tage-Woche. Die Ergebnisse sind recht eindeutig: Die verringerte Arbeitszeit, insbesondere in Verbindung mit selbstbestimmter Arbeitsplanung, verringert auch den Stress. Infolgedessen sind Beschäftigte seltener krank – auch abgesehen vom volkswirtschaftlichen Nutzen ein gesellschaftlich erstrebenswertes Ziel. Arbeiter:innen kündigen seltener, Fachkräfte bleiben also im Betrieb, und das bei gleichbleibender Produktivität.
In Deutschland machen viele Handwerksbetriebe auf eigene Faust vor, was dem IW utopisch erscheint: Sie bieten Beschäftigten eine 4-Tage-Woche an, um die schwer zu besetzenden Stellen zu füllen. Die Modelle sind unterschiedlich und gehen nicht immer mit einer Reduktion der Wochenstunden einher. Insgesamt zeigt sich jedoch: Wo Unternehmen auf Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen eingehen, können sie ihren konkreten Fachkräftemangel beheben. Man kann sich nur vorstellen, wie effektiv so eine Reform wäre, würde sie planmäßig ganze Branchen erfassen.
„Die Bundesrepublik steht am Scheideweg“
“Am Scheideweg”, so beurteilt Hüther die aktuelle politische Lage in der Fuldaer Zeitung. Es gebe eine Vielzahl demographischer Krisen und die Kapitalistenverbände seien entschlossen wie zuversichtlich, diese in ihrem Sinn zu lösen.
Ob der Fachkräftemangel also mit erhöhter Wochenarbeitszeit oder stattdessen mit offener Migrations- und Bildungspolitik sowie besseren Arbeitsbedingungen beantwortet wird, ist Verhandlungssache. Ob Rentenarmut weiterhin ein beschämendes Randthema ist, oder der gesellschaftliche Wohlstand die Lebensstandards der Alten und Ältesten sichert, ebenso.
Hüther und Konsorten sind zuversichtlich, ihr Erfolg der Wunschliste „Agenda 2010“ scheint das zu erlauben.