Am heutigen 15. Mai gedenken Palästinenser:innen auf der ganzen Welt der Nakba, der Vertreibung hundertausender Palästinenser:innen aus dem historischen Palästina während der Gründung des Staates Israel. Diese jährt sich dieses Jahr zum 75. Mal. In Berlin wurden, wie schon im letzten Jahr, alle angemeldeten Demos zum Nakba-Tag verboten. Warum die zunehmende Repression gegen die palästinensische Bewegung uns alle angeht. – Ein Kommentar von Rudolf Routhier
Am 14. Mai 1949 wurde die Gründung des Staates Israels von den Vereinten Nationen beschlossen. Auf dem Großteil des historischen Palästinas, das seit dem Ersten Weltkrieg britisches Hoheitsgebiet war, sollte das neue Israel entstehen. Palästina war zu dieser Zeit eine multiethnische Region mit einer arabisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Die Nakba sollte das ändern.
Mehr als 700.000 Palästinenser:innen wurden durch zionistische, also jüdisch-fundamentalistische Milizen wie Haganah, Irgun oder Lechi zur Flucht gezwungen. So wurde künstlich eine jüdische Bevölkerungsmehrheit geschaffen. Der israelische Historiker Prof. Ilan Pape spricht sogar von einer „ethnischen Säuberung“. Die meisten der Vertriebenen sahen ihre Heimat nie wieder. Mehr als fünf Millionen ihrer Nachkommen leben bis heute in Flüchtlingslagern in Syrien, Libanon, Jordanien oder Gaza.
Das Recht auf Rückkehr für die Vertriebenen bleibt bis heute eine zentrale Forderung des palästinensischen Widerstands – eine, die Israel jedoch kategorisch ablehnt. Für viele Palästinser:innen ist die Nakba dabei kein nur historisches Ereignis, sondern ein andauernder Prozess von Vertreibung und Unterdrückung. Selbst die „Stiftung Wissenschaft und Politik“, ein Think-Tank unserer Regierung, spricht bei der Nakba von einer „andauernden Katastrophe“.
Diese Tragödie ist beispielsweise in den Illegalen Siedlungen im Westjordanland oder den Zwangsräumung palästinensischer Familien in Sheikh Jarrah zu beobachten: Beide Gebiete gehören zu den palästinensischen Autonomiegebieten, auf denen laut mit der Zwei-Staaten-Lösung ein palästinensischer Staat entstehen könnte. Sie befinden jedoch unter israelischer Besatzung.
Demo-Verbote in Berlin
Der in diesem Jahr stattfindende 75. Nakba-Tag steht im Zeichen einer immer weiter zunehmenden Aggression des israelischen Staates: Die rechte Regierungskoalition um Netanjahu schränkt nicht nur innerhalb Israels demokratische Rechte ein, auch die ohnehin schon starken Angriffe gegen die palästinensische Zivilbevölkerung eskalieren zunehmend. Seit Jahresbeginn wurden bereits 147 Palästineser:innen vom israelischen Militär oder den Siedler:innen ermordet, auch Luftangriffe auf das seit 2006 belagerte Gaza finden regelmäßig statt.
Demo und Fahnen-Verbote in der Hauptstadt – wie unsere Rechte mit Füßen getreten werden
Schon im letzten Jahr wurden in Deutschland die Demonstrationen zum Gedenktag verboten. Die Polizei Berlin nutzte dieses Jahr dann auch gleich die „aufgeheizte Stimmung” als Rechtfertigung, um alle angemeldeten Demos für den Nakba-Tag zu verbreiten: es könne zu Straftaten durch “hoch emotionalisierte Männer” kommen.
Dass es bei diesem Verbot um vieles geht, aber bestimmt nicht um die Prävention von Straftaten oder gar Antisemitismus sieht man daran, dass zu den von der Repression betroffenen Gruppen nicht nur fortschrittliche palästinensische Gruppen wie „Samidoun“ gehören, die sich für ein säkulares und multi-ethnisches Israel/Palästina einsetzen, sondern auch weitere antizionistische jüdische Gruppen. Erst kürzlich kritisierten 100 Jüd:innen und Israelis aus Berlin die Verbotspolitik in der Hauptstadt.
Jüdischen Menschen Im Namen des Kampfes gegen Antizionismus das Rechts auf Versammlungsfreiheit zu nehmen, ist zweifellos ein ignorantes Meisterstück in Vergangenheitsbewältigung des deutschen Staates.
Noch viel bizarrer ist jedoch das Argument der “aufgeheizten Stimmung”: Die Berliner Polizei beschwört damit fleißig das Schreckgespenst „wütender Araber“ herauf – in der Hoffnung, dass dann nicht auffällt, wie besorgniserregend es eigentlich ist, dass der deutsche Staat Demos verbieten kann, auf denen Teilnehmer:innen möglicherweise „wütend“ sein könnten.
Auf welcher guten Demo waren wir jemals nicht wütend, war die Stimmung nicht aufgeheizt? Warum sollte man demonstrieren, wenn man nicht wütend ist? Sei es Polizeigewalt, Patriarchat, Ausbeutung oder Militarisierung – der deutsche Imperialismus, ebenso wie der israelische, liefert einem täglich gute Gründe, wütend zu sein. Wenn dies jetzt schon ausreicht, um uns die Versammlungsfreiheit zu nehmen, sollte uns das allen große Sorgen machen.