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Mittwoch, Mai 1, 2024
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    „Stoppt diese Religion!“ – wie Kardinal Marx die Realität verdreht

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    Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, ist einer der führenden Repräsentanten der katholischen Kirche in Deutschland. In einem Interview greift er medienwirksam den Islam an („Stoppt diese Religion!“) und stellt sich hinter Israel und das Kapital. Der argumentative Weg dahin verläuft über wirre Logik und Geschichtsrevisionismus. – Ein Kommentar von Johann Khaldun.

    Der Lieblingskardinal unserer bürgerlichen Medien macht wieder von sich hören. Nachdem er Missbrauchsfälle in den eigenen Reihen sorgsam verdrängt hat, um sich hinterher reuig zu geben, macht er sich nun vor allem als bundesdeutscher Moralapostel breit. Man seufzt schon beim Vernehmen seines Namens – Reinhard Marx – dessen Anschauungen so weit von denen seines Namensvetters Karl Marx entfernt sind. Welche salbungsvollen Worte mag er uns dieses Mal wieder einsäuseln? – Hass ist es. Das Ziel: der Islam.

    Da sich einige Muslime in Deutschland „erdreisten“, den Widerstand der Palästinenser:innen – trotz  zu kritisierender Führung – zu unterstützen, zieht unser Kardinal in einem Interview mit dem Focus vergangenen Freitag den Schluss: „Da kann ich nur sagen: Stoppt diese Religion!“. Freilich nur diese Religion.

    Und er holt noch weiter aus, wenn er sagt: „Dabei sollten alle Religionen ihrem Wesen nach doch Instrumente des Friedens sein. Wie kann jemand rufen: Gott ist groß! Und dann Menschen ermorden?“. Damit bezieht er sich auf den Gottesruf „Allahu Akbar“. Welche Heuchelei aus dem Mund eines Vertreters der katholischen Kirche! Die Kunde von den Kreuzzügen und deren Kampfruf „Deus lo vult“ (Gott will es!) haben unseren Kardinal offenbar noch nicht erreicht.

    Religion ist ihrer historischen und gegenwärtigen Wirklichkeit nach kein Instrument des Friedens. Und auch die Forderung, dass sie das sein „sollte“, ist nur nur eine Phrase, hinter der sich bestimmte Herrschaftsabsichten verbergen. Nicht anders ist es bei Reinhard Marx. Vielleicht vergisst er die Kreuzzüge auch deshalb, weil deren Opfer nicht eben selten Muslime waren und er sie daher zu den Verteidigungskämpfen zählen kann, die er als gerechtfertigt anerkennt, um die damaligen Herrschaftsziele zu verwirklichen.

    Herr Marx sieht das Böse und Falsche vor allem bei den Muslimen. Auch damit liegt er ganz auf Linie der herrschenden deutschen Ideologie, die gegenwärtig den Widerstand der Palästinenser:innen nutzt, um Antisemitismus nach außen, auf die anderen zu projizieren und sich somit von der eigenen historischen Schuld reinzuwaschen. Das führt auch zu handfesten Resultaten wie z.B. der steigenden Gewalt gegen Muslim:innen in Deutschland.

    Gewalt gegen Muslime in Deutschland steigt an – und das nicht zum ersten Mal

    Reinhard Marx stellt richtig fest, dass sich muslimische Religionsführer in die Herrschaftszwecke der eigenen bürgerlichen Regierungen einspannen lassen. Dass er exakt das mit diesen Aussagen selbst tut, entgeht ihm als aufrechtem Ideologen freilich. Die katholische Kirche ist ja selbst mit dem Machtantritt des Bürgertums und seiner Gesellschaft, dem Kapitalismus, zum Instrument bürgerlicher Herrschaft geworden. Die ideologische Einheit beider kommt also nicht von ungefähr.

    Der Kardinal hadert mit der Geschichte

    Auffällig ist auch das Verhältnis, das der Kardinal zur Geschichte hat: So erfahren wir bei ihm, dass Christ:innen und Jüd:innen Geschwister und untrennbar miteinander verbunden seien. Wer ein wenig mit der Geschichte des Christentums vertraut ist, wird hier aufhorchen.

    Es stimmt, dass das Christentum einst als jüdische Sekte begann, gleichsam aus dem Judentum hervorging. Nur kann man in der Folge schwerlich von einem „geschwisterlichen Verhältnis“ sprechen. Vielmehr zeichnet sich die europäische Geschichte durch die systematische Unterdrückung der Jüd:innen, durch regelmäßige Pogrome, Ghettoisierung und schließlich den Holocaust aus. Geschwister streiten sich, aber selten vernichten sie einander.

    Aber diese Erzählung einer “jüdisch-christlichen Tradition”, die den europäisch tief verwurzelten Antisemitismus durch die Mär eines mehr oder weniger harmonischen Verhältnisses der beiden Religionen vergessen machen will, gehört mittlerweile schon fast zum Grundstock der herrschenden bürgerlichen Ideologie. Dieser Geschichtsrevisionismus neuerer Prägung ist ein Produkt der imperialistischen Ideologie und richtet sich direkt gegen den Islam und die Muslim:innen, die dann zu den eigentlichen „Antisemiten“ und „Barbaren“ erklärt werden. Auch hier befindet sich also unser Kardinal in schönster Harmonie mit dem Kapital und dessen Denken.

    Dieser Linie folgt Herr Marx auch im Bezug auf den aktuellen Krieg in Israel und Palästina. Israel wegen seiner Siedlungspolitik zu kritisieren, sei ja „legitim“, aber „die möglichen Fehler einer Regierung als Begründung für einen Massenmord an Juden und die Vernichtung des Landes zu nutzen, [sei] infam und außerhalb jeder Akzeptanz“.

    Zum einen verschleiert er hier den siedler-kolonialen Charakter Israels. Die Vernichtung der Palästinenser:innen durch den Staat Israel ist keine politische Verfehlung, sondern sie ist geradezu Bestandteil, ja, Grundlage dieses Staates, der auf dem Zionismus aufbaut. Israel ist ein koloniales Projekt, das sich nur über die unausgesetzte Vertreibung und Vernichtung des kolonialisierten Volkes erhalten kann. Vergisst man die Geschichte, geht freilich auch die Einsicht in diesen Staatscharakter verloren.

    Zum anderen ist diese Argumentation selbst antisemitisch, indem sie den zionistischen Staat Israel als Repräsentanten aller Jüden:innen darstellt und sie dadurch als undifferenzierte, reaktionäre Masse erscheinen lässt. Dabei gibt es nicht nur innerhalb Israels jüdischen Widerstand gegen den Kolonialismus, sondern auch in erheblichen Umfang etwa unter jüdischen Amerikaner:innen in den Vereinigten Staaten.

    Und nicht zuletzt hält sich in dieser Aussage von Reinhard Marx über die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland auch die insgeheime Anerkennung des Umstands versteckt, dass es sich bei Israel um einen Apartheidsstaat handelt, in dem nicht-jüdische Minderheiten rechtlich und sozial systematisch diskriminiert werden.

    “Wir müssen darauf bestehen, dass Täter und Opfer nicht verwechselt werden”

    Marx erklärt schließlich im Interview, man müsse darauf „bestehen, dass Täter und Opfer nicht verwechselt“ würden. In diesem Punkt kann man Kardinal Marx nur zustimmen und uns seine eigenen Aussagen als Beispiel dafür vor Augen führen, wohin eben solche Verwechslung führen kann: nämlich zur Rechtfertigung von Unterdrückung, zur Stützung der bürgerlichen Herrschaft im eigenen Land und zu Kolonialismus und Imperialismus auch in anderen Ländern. In diesem Sinne können wir dem Herrn Marx durchaus dankbar sein für den Anschauungsunterricht, den er uns damit geliefert hat.

    Bei ihm selbst gipfelt diese Verkehrung von Täter und Opfer im Verbund mit seinem Geschichtsrevisionismus in seiner Aussage, dass das Leid der Palästinenser:innen „durch den Terror der Hamas“ verursacht worden sei. So löscht man Jahrzehnte Kolonisierung nicht nur aus, sondern schiebt sie den Opfern selbst in die Schuhe. Soviel zur Idee, dass die Religion, zumal die christliche, ein Werkzeug des Friedens wäre. Das deutsche Kapital dankt Herrn Kardinal Marx dafür mit breitester Medienaufmerksamkeit, weil es seine Interessen aufs Schönste verteidigt findet.

    • Perspektive-Autor seit 2023. Philosoph deutsch-algerischer Abstammung mit Fokus auf Arbeiter:innengeschichte und deutschem Idealismus. Vom Abstrakten zum Konkreten auf dem Weg der Vermittlung.

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