Nach dem Fluchtversuch des Halle-Attentäters im Jahr 2022 hat nun ein neues Verfahren begonnen. Wieder geht es um eine selbst gebaute Waffe.
Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Faschist, in eine Synagoge einzudringen und mit seiner selbst gebauten Pistole die Besucher:innen zu töten. Zwei Menschen kamen nahe der Synagoge ums Leben, viele weitere trugen schwere Verletzungen davon. Nachdem er im Dezember 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, unternahm er zwei Jahre später, wieder mit einer selbst gebauten Waffe, einen Fluchtversuch und bedrohte dabei zwei Angestellte der JVA. Nun steht der Verurteilte erneut vor Gericht.
Neuer Prozess, alte Umstände
Ein weiterer Prozess, wieder im Gerichtssaal in Magdeburg, erneut geht es um Waffenbau. Diesmal muss sich der Attentäter für die Geiselnahme zweier Beamter der JVA Burg im Dezember 2022 verantworten.
Zu Beginn des Prozesses wurden sämtliche Videoaufnahmen des Fluchtversuchs und der Geiselnahme abgespielt. Außerdem tätigte der Angeklagte selbst Aussagen, unter anderem gestand er die Tat. Während er zwei Tage lang im Dezember unbewacht in seiner Zelle verbrachte, habe er aus verschiedenen Materialien eine improvisierte Waffe hergestellt. Dabei ging er laut eigener Aussage davon aus, dass ein Schuss aus ihr tödlich sein könnte. Sein Ziel der versuchten Flucht war, „frei zu sein“.
Zum zweiten Prozesstag erschien der Angeklagte mit einem blauen Auge, das seinem Verteidiger nach von einem Unfall stamme. Am gleichen Tag tätigten die als Geiseln genommenen JVA-Beamten ihre Aussagen, zum ersten Gerichtstermin waren sie nicht erschienen. Einer der Beiden äußerte, er habe Todesangst gehabt. Seit dem Vorfall leiden die Nebenkläger unter psychischen Problemen und sind nicht mehr aktiv im Dienst.
Zum nächsten Prozesstag am Mittwoch sollen zwei weitere Zeug:innen befragt werden, wie auch ein psychiatrischer Gutachter. Zu den Gerichtsterminen wird der Täter auf Anordnung mit Hand- und Fußfesseln transportiert.
Zwei Tage unbeaufsichtigt: Die Fluchtvorbereitung
Rund um die versuchte Flucht vor etwas über einem Jahr stand vor allem eine Frage im Raum – wie konnte es dazu kommen? Eigentlich hatte der Angeklagte bereits im Prozess zum Attentat in Halle die höchstmögliche Strafe erhalten – lebenslange Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung, sowie Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Laut dem Urteil des Oberlandesgerichtes Naumburg machte sich der Angeklagte dem Mord an zwei Menschen, versuchtem Mord an 66 weiteren sowie der fahrlässigen Körperverletzung und Volksverhetzung schuldig. Nach seiner Verurteilung wurde der 32-Jährige mehrmals verlegt, im Dezember 2022 befand er sich in der Justizvollzugsanstalt Burg.
Hier konnte er am Wochenende des 10./11. Dezembers unbeaufsichtigt in seiner Zelle eine Schusswaffe bauen und somit seine Flucht vorbereiten. Am darauf folgenden Montag war es ihm möglich, zwei Beamte zu bedrohen und sie zu zwingen, ihm zur Flucht zu verhelfen. Der Plan scheiterte in der Hauptschleuse des Gebäudes, als weitere Angestellte der JVA eingreifen konnten.
Unvorhersehbar oder Behördenversagen?
Dass der Inhaftierte überhaupt die Gelegenheit hatte, zwei Tage lang unbemerkt eine Waffe herzustellen, weckte damals sowohl bei den Überlebenden des faschistischen Anschlags wie auch in der Allgemeinheit großes Misstrauen. Vielen kommt es komisch vor, dass ein Täter mit einer solchen Vorgeschichte in einer Hochsicherheitsanstalt still und heimlich Zeit und Möglichkeiten hatte eine schussfähige Waffe anzufertigen. Der Überlebende des Anschlags İsmet Tekin äußerte: „Für mich persönlich ist es wieder eine große Schande und Enttäuschung, ich habe noch mehr Misstrauen in die deutschen Behörden.“
Ein Versagen der Behörden wurde schon zu Beginn des ersten Prozesses gegen den Straftäter aufgeworfen. Bereits kurz nach der Tat bezeichnete die Polizei die Tat als „Einzelfall“. Dabei ist in der Vergangenheit schon oft bewiesen worden, dass rechte Terroranschläge auf breite faschistische Netzwerke zurückzuführen sind. Auch die Verbindung zwischen rechtem Terror und Staat wurden immer wieder belegt. Ob beim Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) oder dem kürzlichen Treffen von Faschist:innen in Potsdam, an dem sich auch zahlreiche Politiker:innen aus Parlamentsparteien beteiligten – die Illusion eines “Einzelfalls” wird immer wieder entschleiert.