Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich haben am Wochenende hunderttausende Menschen gegen Rassismus und für Solidarität demonstriert. Anders als in Deutschland steht jedoch in Frankreich die rassistische Regierungspolitik im Zentrum der Kritik. – Ein Kommentar von Paul Gerber
„Ich bin überzeugt, dass wir erst am Anfang eines machtvollen Kampfes gegen Rassismus und Diskriminierung sowie für Solidarität stehen“. So äußerte sich Benoît Hamon, ehemaliger französischer Präsidentschaftskandidat, zu den aktuellen landesweiten Protesten in Frankreich gegen das neue Ausländergesetz, das vom Parlament im Dezember 2023 beschlossen worden war und momentan vom französischen Verfassungsgericht überprüft wird.
Hamon ist einer der Mitorganisatoren der aktuellen Protestwelle in Frankreich gegen die Verschärfung des französischen Ausländerrechts. Er ist ehemaliger Abgeordneter der Parti Socialiste (PS), also der Schwesterpartei der deutschen SPD.
Auf den ersten Blick könnte man denken, dass sich in Frankreich gerade etwas ähnliches wie in Deutschland abspielt. Mit etwa 300.000 Personen am vergangenen Wochenende bei über 100 Demonstrationen in Frankreich ist zumindest die Größenordnung der antirassistischen Proteste durchaus vergleichbar. In Deutschland sollen es am Samstag etwa ähnlich viele Demonstrant:innen gewesen sein.
In den letzten Jahren gab es scheinbar nur eine Richtung, in die sich die politische Atmosphäre verschob – nämlich nach rechts. Dürfen wir jetzt erleichtert aufatmen, weil es endlich eine Massenbewegung gibt, die in ganz Europa rassistischer Migrationspolitik und Faschismus Einhalt gebieten will? Leider nicht.
Denn zentral für die politische Bewertung solcher Proteste kann nicht sein, ob und wie häufig von den großen Bühnen aus die Worte „Solidarität“, „Zusammenhalt“ und „Antifaschismus“ beschworen werden. Das zentrale Kriterium muss vielmehr sein, wie sich die Proteste zu den aktuellen politischen Vorhaben und Angriffen ihrer Regierungen verhalten.
Verschärfungen der Migrationspolitik in Deutschland und Frankreich
Denn vergleicht man Deutschland und Frankreich, dann fällt als Erstes auf, dass in beiden Ländern ,aktuell massive Verschärfungen der Migrationspolitik durchgesetzt werden sollen. Während in Deutschland gleich mehrere Gesetze beschlossen werden, um Abschiebungen zu erleichtern, Verhandlungen mit diversen Staaten in Afrika geführt werden, um sie davon zu überzeugen, Migrant:innen, die der deutsche Staat nicht haben will, aufzunehmen und aktuell die EU-Asylrechtsverschärfung in nationales Gesetz umgesetzt wird, steht in Frankreich das neue Ausländergesetz im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Dieses sieht jährliche Obergrenzen für Einwanderung vor, beschneidet den Anspruch auf Sozialhilfe stark, macht es deutlich schwerer für Migrant:innen, eine Einreiseerlaubnis für Familienangehörige zu erwirken und enthält noch weitere Verschärfungen. Ähnlich wie in der deutschen Politik besteht die grundsätzliche Orientierung des Gesetzes darin, zunehmend mehr Migrant:innen den Aufenthaltstitel zu verweigern, aber dafür mit mehr Mitteln ganz gezielt Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben.
Entweder Abschieben oder Ausbeuten: Bundeskanzler Olaf Scholz stellt seine Asylpolitik vor
In Frankreich haben nun Hunderttausende gegen dieses Gesetz demonstriert. Die hunderttausenden Demonstrant:innen in Deutschland am gleichen Wochenende beteiligten sich hingegen vor allem an Demonstrationen gegen die AfD und andere Faschist:innen. Dass die Bundesregierung selbst gerade eine rechte Gesetzesverschärfung nach der anderen durchdrückt, ging dabei in den meisten Fällen unter, geschweige denn, dass dies von den Veranstalter:innen thematisiert worden wäre.
Der politische Charakter beider Proteste ist somit doch sehr unterschiedlich: In Frankreich wird direkt gegen die Gesetzesreform der Regierung protestiert. Die massenhaften Demonstrationen in Deutschland hingegen stellen zwar keine direkte und offene Rechtfertigung der rassistischen Regierungspolitik dar. Da sie aber stark von Teilen der Ampelkoalition um SPD und Grüne getragen werden und die AfD als die zentrale Bedrohung für Migrant:innen in Deutschland darstellen, lenken sie erstens von den rassistischen Vorstößen der Regierung ab und dienen zweitens faktisch geradezu als Legitimation der Regierungspolitik.
Es gilt, Regierungskritik in die Proteste zu tragen
Was folgt daraus? Natürlich bleibt trotzdem wahr, dass die allermeisten Menschen, die momentan gegen AfD und Faschismus auf die Straßen gehen, das aus ehrlicher Abscheu gegen deren menschenfeindliche Rhetorik und rassistische Verschwörungen tun.
Wichtig ist es aber, sich nicht einfach diesem „Aufstand der anständigen Demokrat:innen“ anzuschließen, sondern vor allem aufzuzeigen, dass die Regierung momentan umsetzt, was die AfD seit Jahren fordert: Mehr Abschiebungen, mehr Grenzkontrollen und schärfere Repression gegen Migrant:innen.
Zumindest die Teilnahme von Kanzler Scholz (SPD), Außenministerin Baerbock (Grüne) und anderen Spitzenpolitiker:innen ist vor diesem Hintergrund eine ganz offensichtliche Heuchelei und muss als solche entlarvt werden. Das aufgeflogene „Geheimtreffen“, bei dem die AfD über Möglichkeiten fantasierte, wie sie möglichst viele Migrant:innen aus Deutschland vertreiben könnte, wenn sie denn an die Macht käme, ist damit für die Ampel vor allem eins: Ein willkommener Anlass, um die eigene Wählerbasis zu mobilisieren und aus der politischen Defensive an allen Fronten herauszukommen.
Eine ähnliche Motivation haben Personen wie der anfangs zitierte Benoît Hamon zwar sicherlich auch. Die offene Kritik an der Regierungspolitik bleibt aber eine wichtige Stärke der Proteste in Frankreich, die man in Deutschland momentan meist vergebens sucht.