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Sonntag, September 8, 2024
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    Fördergeld-Affäre und die Farce der „Wissenschaftsfreiheit“

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    Durch die „Fördergeldaffaire“ ist nicht nur Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) in Verruf geraten. Diese hat auch eine größere Debatte rund um die Situation der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit losgetreten. Wie frei kann die „Wissenschaft” sein? – Ein Kommentar von Luis Tetteritzsch.

    Uni-Besetzungen, Camps, Demonstrationen, Auseinandersetzungen mit der Polizei – die Monate seit der Eskalation im Krieg Israels gegen das palästinensische Volk im Oktober 2023 sind geprägt von unermüdlichen Protesten gegen den Genozid in Gaza, vom Anprangern der Komplizenschaft der BRD und deutscher Universitäten am Leid der Palästinenser:innen und dem Widerstand gegen staatliche Repressionen.

    Mit der sogenannten „Fördergeld-Affäre“ wurde neben der eskalierenden Polizeigewalt gegen Demonstrant:innen oder der Zwangsexmatrikulation an Berliner Universitäten ein weiterer Vorstoß unternommen, Meinungen zu unterdrücken, die der „deutschen Staatsräson“ gerade nicht passen.

    In einem offenen Brief, der zu Beginn bereits von 130 Wissenschaftler:innen unterzeichnet worden war, wandten sich Anfang Mai Lehrende an die Leitung der Berliner Hochschulen und verurteilten die massive Polizeigewalt gegen Studierende an den Berliner Universitäten – insbesondere an der FU Berlin – aufgrund von Uni-Besetzungen in Solidarität mit Palästina. In einem zweiten Brief wurde dann der Rücktritt der Bildungsministerin Stark-Watzinger gefordert. Grund dafür war das Ansinnen, Fördergelder für die solidarischen Professor:innen und ihre Projekte zu streichen.

    Bildungsministerin will Meinungsfreiheit einschränken – Rücktritt gefordert

    Döring entlassen, Watzinger bleibt, Philippi kommt neu dazu

    Seitdem musste sich Stark-Watzinger in Interviews vielen Fragen stellen, wie es überhaupt zu der Situation kommen konnte. Watzinger weist dabei jegliche Schuld von sich: sie habe diese Prüfung nicht gewollt und diese auch nicht veranlasst. Vielmehr macht sie ihre Staatssekretärin Sabine Döring, ehemalige Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Tübingen, für das „Dilemma“ verantwortlich und hat diese bereits in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Mit der Entlassung der angeblichen „Drahtzieherin“ soll das kleine Missgeschick schnell vergessen sein und zum normalen Betrieb zurückgekehrt werden.

    Dass man wieder zum „normalen“ Betrieb zurückkehren möchte, äußert sich nicht zuletzt auch in dem Beharren auf Watzingers Posten als Bildungsministerin und der Neubesetzung für Döring: Forderungen nach ihrem eigenen Rücktritt lehnt Watzinger weiterhin ab. Auch FDP-Parteivorsitzender Christian Lindner steht hinter ihr und sieht das Problem ebenfalls bei der sich bereits im Ruhestand befindenden Staatssekretärin. Watzinger ist zudem als stellvertretende Parteivorsitzende und Gesicht der FDP im reichen Main-Taunus-Wahlkreis in Frankfurt eine zu wichtige Schlüsselfigur für die liberale Partei, als dass man sie – gerade angesichts der bröckelnden Ampelkoalition – einfach ihres Postens entledigen könnte.

    An die Stelle der parteiunabhängigen Philosophieprofessorin Döring soll nun der FPD-treue Roland Philippi treten. Dieser war zuvor in der Abteilung „Grundsatzfragen und Strategie“ des Bildungsministeriums tätig. Doch noch bevor es überhaupt zu seinem offiziellen Amtsantritt kommt, fällt Philippi durch Nachrichten in internen Chatgruppen des Ministeriums im Messengerdienst Wire auf. Dort hatte er die Wissenschaftler:innen und Verfasser der offenen Briefe als „verwirrte Gestalten“ bezeichnet. Er befürwortete zudem, dass Wissenschaftler:innen um den potentiellen Verlust ihrer Fördergelder bangen müssten.

    „Freiheit der Wissenschaft“ – solange es den Herrschenden passt

    Affären oder Skandale sind für die deutsche Politik nichts Neues. Sie treten aber auch immer wieder öffentliche Debatten los, wie etwa über Steuerhinterziehung und Korruption unter deutschen Politiker:innen nach der berühmt-berüchtigten Cum-Ex-Affäre von Bundeskanzler Olaf Scholz.

    Im Falle Watzingers wird sich nun um die Frage der „Wissenschaftsfreiheit“ in Deutschland gestritten. In dem Diskurs wird vor allem in den Vordergrund gestellt, dass wissenschaftliche Forschung niemals von der politischen Gesinnung der Forschenden oder den politischen Vorgaben der Regierung beeinflusst werden dürfen. Wie beschränkt diese Debatte jedoch geführt wird, zeigt sich an dem Argument, dass die Wissenschaftsfreiheit ja im Grundgesetz verankert sei. Selbst Stark-Watzinger, die gerade aufgrund ihres Vorhabens, wissenschaftliche Forschung einzuschränken, in Verruf geraten ist, betont dies ebenfalls: „Die Wissenschaftsfreiheit ist ein sehr hohes Gut und zu Recht verfassungsrechtlich geschützt.“

    Das Grundgesetz der BRD ist dabei aber nichts anderes als ein Dokument, das die Herrschaft der Kapitalist:innen in Deutschland auf dem Papier festhält und mit dem garantierten Schutz von Privateigentum die auf der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse beruhenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung festschreibt. Mit dem Grundgesetz für die Freiheit der Wissenschaft zu argumentieren, bedeutet also immer auch, sich auf den durch die Herrschenden vorgegebenen Rahmen zu beschränken.

    Was diese Debatte also vollständig verfehlt, ist, die Tatsache anzuerkennen, dass eine wirklich freie Wissenschaft im Kapitalismus überhaupt gar nicht möglich ist. Gelder für Forschungsprojekte, Universitäten und Schulen sind immer vom Haushalt abhängig, der wiederum vom Bundestag oder den Landtagen beschlossen wird. Weder in der Politik noch im Staat haben wir als Arbeiter:innen aber wirklich etwas zu sagen. Vielmehr liegt die Macht und Entscheidungsgewalt dort in den Händen von Gremien, die durch und durch im Interesse der Konzerne agieren und ihre Bedürfnisse in Form von Gesetzen, Haushaltsanpassungen, Förderungskürzungen oder Finanzspritzen für deutsche Monopole befriedigen.

    Die 400 Millionen Euro weniger beim BAföG für Studierende im Rahmen von Kürzungen sozialer Gelder im Bundeshaushalt 2024 wurde vom selben Interesse angetrieben, wie die Diskussionen zur Aufhebung der sogenannten „Zivilklausel” an deutschen Universitäten: Sie sollen letztlich der aktuellen Aufrüstungsoffensive des deutschen Staates dienen.

    Gerade an Universitäten zeigt sich der unfreie Charakter der Wissenschaft: Immer mehr Universitäten sind aufgrund der chronischen Unterfinanzierung des Bildungsbereiches und des steigenden Einflusses von Monopolkonzernen auf Politik und Gesellschaft dazu gezwungen, Aufträge und Gelder von Unternehmen anzunehmen. Die Forschung an deutschen Universitäten und ihre Existenz sind also unmittelbar mit den Interessen deutscher Unternehmen verbunden und von diesen finanziell abhängig.

    Eine wirklich freie Wissenschaft wird es also erst geben, wenn diese sich nicht mehr den Interessen einer kleinen Minderheit der Gesellschaft und dem Profit unterordnen muss. Denn ist etwas nicht profitabel im Kapitalismus, werden kurzerhand die Gelder dafür gestrichen. Das Kriterium dafür, zu was und wie intensiv geforscht wird, ist also nicht die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, darunter beispielsweise das Bedürfnis der Wissenserkenntnis. Das Kriterium für die „Legitimität“ und Finanzierung eines Forschungsgebietes hängt also immer davon ab, wie rentabel seine Ergebnisse sich vermarkten lassen.

    Trotz dieser grundsätzlichen Kritik gilt es deshalb auch in der aktuellen Debatte, Position zu beziehen. Die Angriffe durch das FDP-Ministerium dienen dazu, soziale Bewegungen zu schwächen und Unterstützung in den Universitäten dafür zu untergraben. Eine gemeinsame solidarische Front hat bereits dazu geführt, dass überhaupt ein Personalwechsel stattfinden musste. Daran können wir anknüpfen.

    • Seit 2023 Autor für Perspektive Online. Schreibt gerne über die Militarisierung des deutschen Imperialismus und dem Widerstand dagegen. Denn: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land!"

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