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Sonntag, September 8, 2024
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    Warum steht die „junge Welt” im Verfassungsschutzbericht und zieht nun vor Gericht?

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    Seit 1998 wird die Tageszeitung junge Welt (jW) beinahe jährlich im Verfassungsschutzbericht erwähnt, 2023 das 23. Mal. Dagegen klagte die jW vergangene Woche vor Gericht. Die Argumentation des Staats zeigt, wie ernst es ihm mit der Pressefreiheit ist. – Ein Kommentar von Ahmad Al-Balah.

    Am Donnerstag, den 18.07.2024, wies das Verwaltungsgericht Berlin die Klage des „Verlags 8. Mai” gegen das Bundesinnenministerium wegen der Nennung der Tageszeitung junge Welt (jW) in den jährlichen Berichten des Inlandsgeheimdienstes ab. Dem zuständigen Richter, Wilfried Peters, zufolge seien die Nennung und Einordnung des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) rechtens.

    Die „Intention“ der jW sei die „politische Überwindung des Kapitalismus im Klassenkampf“. Damit unterscheide sie sich von anderen Zeitungen. Zudem hält das Gericht die Zeitung für das „bedeutendste“ und auflagenstärkste Medium im „Linksextremismus“. Die tägliche Auflage beträgt 21.300 Exemplare.

    Ein Gericht hatte bereits im Jahr 2022 einen Eilantrag in der Sache abgelehnt. Auch damals hieß es: Die Berichterstattung sei vom Bundesverfassungsschutzgesetz abgedeckt. Danach dürfe das Ministerium die Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung informieren, soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen.

    Wofür steht die junge Welt?

    Die jW sieht sich selbst als überregionale marxistische Tageszeitung. Das Blatt war von seiner Gründung 1947 bis 1990 das Organ des Zentralrats der FDJ in der DDR. Im Jahr der Wende erlebte es bis Dezember 1990 einen Auflagenrückgang von 1,6 Millionen auf unter 200.000. Seit 1997 fokussiert sich die Zeitung auf Antiimperialismus und Antikapitalismus. Heute gilt sie als der Deutschen Kommunistischen Partei und anderen linken Gruppen nahestehend und wird vom Verfassungsschutz deshalb als „linksextremistisch“ eingestuft und beobachtet.

    Der Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder begründete, dass die Aufgabe der jungen Welt nicht gesellschaftlicher Umsturz sei, sondern „jeden Tag eine möglichst gute Zeitung zu machen“. Dabei würden bestehende Verhältnisse bewertet, dies tue jede Zeitung.

    Der Grund für die Selbstverteidigung der jungen Welt gegen die Erwähnung in den Berichten sind nach Angaben des Verlags „erhebliche Nachteile bei der redaktionellen Arbeit sowie bei Werbeerlösen“. Leserinnen und Leser würden durch die Erwähnung abgeschreckt, Gesprächspartner und Autoren seien schwerer zu gewinnen und Werbepartner zögen sich zurück, lautet die Argumentation des Verlags.

    Die höchste Maxime ist nicht die Demokratie selbst

    Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Richter am Donnerstag waren sich in ihrer Position jedoch einig: Das Gericht hält die Erwähnung mitsamt der Überwachung im jährlich erscheinenden Verfassungsschutzbericht danach in Übereinstimmung mit dem BfV aus vier zentralen Aspekten heraus für gerechtfertigt.

    1. Zum einen strebe die jW die „Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung nach klassischem marxistisch-leninistischem Verständnis an”. Das verstoße gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung” (FDGO), da eine solche Gesellschaftsordnung ein Einparteiensystem befürworte, in dem Minderheitenmeinungen unterdrückt, Pluralismus nicht gewährleistet und Andersdenkende ausgeschlossen würden.

    Der Marxismus-Leninismus sei nun mal verfassungswidrig, wie im KPD-Verbotsurteil 1956 festgeschrieben, argumentierten die Anwälte des BfV. Als die jW-Anwältin dagegen hielt, dass sich dies lediglich auf den Marxismus-Leninismus beziehe, wie ihn Stalin propagierte, und dass sich die jW davon distanziere, entgegnete der Richter, diese Details seien irrelevant. Weil die junge Welt mit Lenin sympathisiere und dieser „die FDGO in energischster Weise bekämpft“ habe, sei die jW verfassungsfeindlich und die Einordnung des BfV gerechtfertigt.

    Dazu meint selbst die Bundeszentrale für politische Bildung, dass der Begriff „FDGO” von „bedauerlicher Unschärfe“ sei . Eine einheitliche rechtliche Definition existiere nicht. Das Gericht argumentiert hier also politisch. Übrigens stammt dieses bürgerliche Konstrukt der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung” aus der BRD und wurde erstmals beim Verbot der „Sozialistischen Reichspartei” (SRP) 1952 in dieser Form entwickelt. Lenin starb bereits 1924, knapp 30 Jahre zuvor, und kann diese daher also gar nicht „energisch” bekämpft haben, wie der jW vom Gericht vorgehalten wird.

    An dieser Stelle wird der Antikommunismus unserer Staatsapparate deutlich. Es wird sich nicht inhaltlich mit dem Demokratieverständnis auseinander gesetzt. Vielmehr gilt es als gesetzt, dass wir heute in einer einwandfreien Demokratie leben, während ihre Veränderung – insbesondere in Form einer Rätedemokratie, wie sie der Marxismus vorsieht – per se als undemokratisch eingestuft wird. Was hierbei nicht gesagt wird, ist, dass es ihnen um den Schutz der heutigen bürgerlichen Demokratie geht. Das bedeutet am Ende nämlich nichts anderes, als dass unsere staatlichen Organe ein kapitalistisches System schützen.

    2. Dem zweiten Argument der Staatsapparate zufolge fungiere die Zeitschrift laut BfV als „politischer Faktor” und nicht nur als Zeitung und Informationsmedium. Sie schaffe Reichweite durch verschiedene Aktivitäten. Sie informiere nicht nur, sondern mobilisiere und forme Widerstand. Immer wieder genannt wird hierbei die „Rosa-Luxemburg-Konferenz”. Damit gehe die Aktivität der „Jungen Welt” über die einfache Ausübung der Meinungs- und Pressefreiheit hinaus und falle somit unter den rechtlichen Begriff der „Bestrebung” gemäß dem Bundesverfassungsschutzgesetz (BverfSchG). Extremistische „Bestrebungen” in diesem Sinne sind Aktivitäten mit der Zielrichtung, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen.

    Durch diese Bestimmung hat sich der deutsche Staat ein eigenes Gesetzbuch gezimmert, womit die politischen Gegenüber in Schach gehalten werden können. Viele sehen darin vermutlich ein effektives Mittel gegen rechte Bestrebungen in diesem Land. Doch zeigt dieser Fall deutlich, dass hier gegen eine Zeitung vorgegangen wird, die das kapitalistische Ausbeutersystem aus fortschrittlichen Motiven heraus in Frage stellt.

    Jeder Ansatz zur Veränderung des herrschenden Systems – und sei es der Versuch eine Verbesserung – wird dabei Repressionen ausgesetzt – dies wiederum, weil es den Herrschenden nicht um eine offene Demokratie-Diskussion geht, sondern schlicht um den Machterhalt.

    3. Der Geheimdienst beobachtet auch eine „Verflechtung“ der Tageszeitung mit der „linksradikalen Szene“. So seien „einzelne Redaktionsmitglieder und einige der Stammautoren und Gastautorinnen“ dem „linksextremistischen Spektrum zuzurechnen”.

    Was hier mit „Verflechtung” verteufelt wird, sind aber nichts anderes als die ideologische Richtung und die dementsprechenden Verbindungen der Zeitung. Als linke Zeitung bestehen natürlich Kontakte zu linken Gruppen, ebenso wie hinter allen anderen Zeitungen die jeweiligen sozialdemokratischen, konservativen, grünen, neoliberalen, rechten oder faschistischen Organisationen stehen. Dass die jeweiligen Redakteure und Stammautor:innen dann ebenfalls aus dieser politischen Richtung kommen, versteht sich von selbst. Diese Verflechtung kann also in sich selbst keine Überwachung begründen. Hier findet ein argumentativer Zirkelschluss statt, der wiederum auf den ersten Punkt zurückgeht.

    4. Viertens und letztens lasse die jW immer wieder Stimmen zu Wort kommen, die von Gewalt und politisch motivierten Straftaten in zugewandter Weise berichten (z.B. RAF-Anhänger:innen). Dadurch bekenne sie sich „nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit“. Vielmehr biete sie immer wieder „eine öffentliche Plattform für Personen und Organisationen, die politisch motivierte Straftaten befürworten.”

    Hier versucht die Argumentation einen breiten Spagat, nur um der jW zu unterstellen, dass sie zu Gewalt aufrufe. Erstens ist es nicht der Verlag selbst, der sich „in zugewandter Weise“ oder „befürwortend“ zu Gewalt äußert, sondern es sind Dritte. Zweitens wird nicht nachgewiesen, warum es einer „ausdrücklichen Ablehnung jeder Form von Gewalt bedarf“, um nicht im Verfassungsschutzbericht zu landen.

    Das wäre mit Blick auf die vielen unterschiedlichen Formen von Gewalt, wie der Staatsgewalt, der Notwehr, etc. auch absurd: In diesem Fall wären alle Zeitungen irgendeiner Form von Gewalt zugewandt und befürwortend. Diese einseitige Fokussierung im Vergleich zur BILD-Zeitung oder anderen konservativen Zeitungen, die regelmäßig ein härteres Durchgreifen von Polizei, Grenzbeamt:innen und so weiter fordern, führt wieder zur Frage zurück, warum hier gezielt gegen die jW vorgegangen wird.

    Die Antwort liegt wiederum auf der Hand: das kapitalistische System soll geschützt werden. Sozialistische Medien sollen in den Augen der Arbeiter:innenklasse möglichst diffamiert werden, um deren Einfluss dort gering zu halten – so die Idee der herrschenden Kapitalist:innenklasse.

    Motive und Rollen sind klar verteilt

    Während der Vorsitzende Richter Wilfried Peters von Anfang an durchscheinen ließ, welche Argumente er für gewichtiger hält, stand das Publikum weitgehend auf Seiten der Zeitung. Die Berufung wurde dennoch nicht zugelassen – die bekannten Rechtssätze seien angewendet worden.

    „Wir werden uns selbstverständlich nicht damit zufriedengeben”, so die Reaktion von Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer des Verlags. Die jW werde einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellen: „Wir haben auch damit gerechnet, nicht in der ersten oder zweiten Instanz zu obsiegen”. Man werde sowohl das BVerfG als auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit ihrem Fall befassen, wenn es sein müsse. Es mache Sinn sich, zu wehren.

    Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es spricht jedoch Bände – was die Rolle des Verfassungsschutzes als Inlandsgeheimdienst angeht, wie auch die Rolle von Gerichten. Ziel des Staats sei es, Relevanz und „Wirkmächtigkeit” der jungen Welt einzuschränken, gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken dann auch ganz offen zu. Eine Nennung im Verfassungsschutzbericht diene auch dem Zweck, „verfassungsfeindliche Bestrebungen” einzuschränken, um ihnen „den weiteren Nährboden entziehen zu können“.

    Wie bereits 1956 mit dem Verbot der KPD geschehen, ist der Staat durchaus in der Lage, gegen unliebsame Meinungen von links mit einem Handstreich vorzugehen. Was die jW-Kampagne zeigt, ist, dass dieser Staat und unsere Demokratie hier und heute anscheinend eben nur mit Hilfe eines Inlandsgeheimdiensts gegen Andersdenkende funktioniert.

    Alles, was die FDGO (also den bürgerlich-liberalen Staat) angreift, kann dieser im Handumdrehen zunichte machen, sobald es denn für ihn gefährlich wird. Die jW stellt heute sicher keine konkrete Gefahr für das weitere Bestehen der Bundesrepublik dar, auch wenn dieses Urteil anders klingen mag. Vielmehr geht es dem Staat darum, schon jetzt jeglichen Ansatz einer grundsätzlichen Systemkritik von links zu diffamieren.

    Doch sollte der Versuch der Regierung nicht gelingen, die “Wirkmächtigkeit” linker Zeitungen zu untergraben, erweitert er auch seine juristischen Möglichkeiten für eventuelle Verbote. Obgleich man dem nun verbotenen AfD-nahen Compact-Magazin keine Träne nachweinen sollte, stellt es doch die Möglichkeiten und Hebel des liberal-bürgerlichen Staats unter Beweis, gegen abweichende Medien vorzugehen, wenn die Lage ernst wird. Darauf sollten wir uns einstellen.

    Folgenreiche Verbote

    • Ahmad Al-Balah ist Perspektive-Autor seit 2022. Er lebt und schreibt von Berlin aus. Dort arbeitet Ahmad bei einer NGO, hier schreibt er zu Antifaschismus, den Hintergründen von Imperialismus und dem Klassenkampf in Deutschland. Ahmad gilt in Berlin als Fußballtalent - über die Kreisliga ging’s jedoch nie hinaus.

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