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Freitag, September 13, 2024
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    Das Bruttoinlandsprodukt sagt nichts über die tatsächliche „Wirtschaftsleistung” aus

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    Bürgerliche Statistiken verschleiern oft mehr, als sie erklären. Ein gutes Beispiel ist das Bruttoinlandsprodukt, eine Kerngröße der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre. Offiziell gibt es die in einem Land in einem Jahr getätigte Wirtschaftsleistung an. Doch bei genauerem Hinsehen steckt im BIP eine andere Aussage. – Eine Einordnung von Thomas Stark.

    Erst vor kurzem titelte der Tagesspiegel wieder mit dem Bruttoinlandsprodukt: „Eurozone: Wirtschaft wächst – aber nicht in Deutschland“. Die Statistikbehörde Eurostat habe demnach für das zweite Quartal 2024 einen „Zuwachs der Wirtschaftsleistung um 0,6 Prozent” gemeldet.

    BIP als „Wirtschaftsleistung”?

    Die Charakterisierung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als „Wirtschaftsleistung“ des jeweiligen Landes ist die gängige Auffassung nicht nur in der Wirtschaftspresse, sondern auch beim Statistischen Bundesamt. Auf dessen Webseite heißt es: „Das BIP zeigt an, wie viel in einem Land in einem bestimmten Zeitraum wirtschaftlich geleistet wurde“.

    Errechnet werden kann es auf dreierlei Art: Nämlich über die sogenannte Entstehung, seine Verwendung oder die Verteilung produzierter Güter.

    Bei der Entstehung etwa wird der „Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen“ abzüglich der Vorleistungen – etwa für Rohstoffe und Zwischenprodukte – herangezogen. Hier werden alle Gütersteuern (wie z.B. die Mehrwertsteuer) hinzu addiert und alle Subventionen abgezogen.

    Die Verwendungsrechnung dagegen ergibt sich aus der Summe aller Konsumausgaben von Privatpersonen und Staat, der Bruttoinvestitionen und Exporte minus der Importe. Beide Rechnungen sollten in etwa zum selben Ergebnis führen.

    Ist Luxemburg das wirtschaftlich leistungsstärkste Land der Welt?

    Das Problem ist jetzt aber folgendes: Setzt man das so berechnete BIP mit der „Wirtschaftsleistung“ eines Landes gleich und teilt es durch die Anzahl der Einwohner:innen, kommt man zu einem verblüffenden Ergebnis: Demnach wären die fünf wirtschaftlich leistungsstärksten Länder des Jahres 2023 nämlich Luxemburg, Irland, Norwegen, die Schweiz und Singapur gewesen.

    Dies ist umso bemerkenswerter, als die luxemburgische Industrie nur 12 Prozent zum BIP beisteuert – die Produktion von Waren aber die einzige Quelle gesellschaftlichen Reichtums ist. Der weit überwiegende Teil sind mit 78 Prozent die sogenannten „Dienstleistungen“, worunter die bürgerliche Ökonomie pauschal alle Güter fasst, die man nicht sehen oder anfassen kann: Eine Taxifahrt oder ein Friseurbesuch werden hier also mit Versicherungen, Werbung und anderen Tätigkeiten gleichgesetzt, die aber tatsächlich nur aus der Notwendigkeit des Verkaufs und Kaufs von Kapital entstehen.

    Nach marxistischer Auffassung gehören letztere Arbeiten zur sogenannten „Zirkulationssphäre”: Sie steuern nichts zum gesellschaftlichen Reichtum bei, sondern müssen als Kosten für die Kapitalzirkulation davon abgezogen werden. Anders ist es bei Waren, die im gleichen Moment produziert und konsumiert werden, wie etwa Taxifahrten oder Friseurbesuche. Diese werden Luxemburg aber kaum an die Spitze der wirtschaftlichen „Leistungsträger“staaten katapultiert haben.

    Das T-Shirt aus Bangladesch

    Die Unterscheidung von Produktion und Zirkulation und die Kritik des verschwommenen Begriffs der „Dienstleistungen“ bilden aber nur einen Nebenaspekt der BIP-Problematik: Die wirklich paradoxen Ergebnisse, zu denen die Auffassung des BIP als „Wirtschaftsleistung“ führt, werden nämlich erst bei einer Betrachtung der internationalen Produktion und Handelsströme deutlich.

    Der Autor John Smith hat dies 2016 in seinem sehr interessanten Werk „Imperialism in the 21st Century“ herausgearbeitet, in dem er eine Analyse der heutigen globalisierten Produktion im Imperialismus vornimmt.

    Smith hat für mehrere alltägliche Waren (das T-Shirt bei H&M, das iPhone und die Tasse Kaffee) nachvollzogen, wie sich deren Preise im einzelnen zusammensetzen und welche Bestandteile in wessen nationales BIP eingehen: Ein T-Shirt, das in Bangladesch produziert und in einer H&M-Filiale in Deutschland verkauft wird, kostete im Jahr 2016 demnach 4,95 Euro. 1,35 Euro davon gingen von H&M an das produzierende Textilunternehmen in Bangladesch und weitere 0,06 Cent musste H&M für den Transport bezahlen. 40 Cent von den 1,35 Euro hat das Textilunternehmen in Bangladesch wiederum für Baumwolle aus den USA ausgegeben.

    Das bedeutet, dass nur 0,95 Euro pro T-Shirt in Bangladesch bleiben und dort zwischen Textilfirma, Arbeiter:innen, lokalen Zulieferern und dem Staat aufgeteilt werden. Das bedeutet aber auch, dass 0,95 Euro des 4,95 Euro teuren T-Shirts in das BIP von Bangladesch eingehen, während dem deutschen BIP 3,54 Euro (nämlich 4,95 Euro minus die Vorleistungen von 1,35 Euro und 0,06 Euro) gutgeschrieben werden.

    Verstünde man das BIP fälschlicherweise als Angabe über den in einem Land von den dortigen Arbeiter:innen produzierten Wert, würde das bedeuten, dass das Nähen des T-Shirts in einer der berüchtigten Textilfabriken von Dhaka nur 0,95 Euro Wert schafft – das Aufhängen des T-Shirts durch eine Verkäuferin bei H&M in Düsseldorf hingegen 3,54 Euro.

    Leistung oder Aneignung?

    Das ist natürlich Unsinn und zeigt, dass sich das Handelsunternehmen H&M vielmehr einen Großteil des Werts vom T-Shirt und damit der Arbeit der Näherin aus Bangladesch aneignet – während dieser nur ein Hungerlohn und der Textilfabrik in Dhaka lediglich ein kleines Stückchen vom Kuchen bleibt. Der Wert des T-Shirts wird nämlich – abgesehen vom Transport – zu 100 Prozent von der Näherin geschaffen.

    Damit löst sich auch das Rätsel des BIP: Es sagt nichts über die Wirtschaftsleistung eines Landes aus, sondern darüber, wie viel international produzierter Wert in einem bestimmten Land angeeignet wird. Dass darüber hinaus ein Großteil des in Luxemburg, Irland und anderen Ländern angeeigneten Werts wiederum Konzernen aus den USA, Deutschland und anderen imperialistischen Ländern gehört, steht auf einem anderen Blatt.

    Das Bruttoinlandsprodukt ist also ein gutes Beispiel dafür, wie bürgerliche Statistiken die Realität des Imperialismus verzerren: Die aus anderen Ländern angeeignete Arbeit erscheint als eigene Leistung. Wahr ist allerdings, dass diese angeeignete Arbeit den gesellschaftlichen Reichtum in den imperialistischen Ländern vermehrt – und zwar auf Kosten von Staaten wie Bangladesch.

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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