`
Donnerstag, September 12, 2024
More

    Forensische Psychiatrie: Die Hölle für Patient:innen und Angestellte

    Teilen

    Überstunden und schlechte Arbeitsbedingungen für Angestellte, fehlende Therapie, Privatsphäre und Hygiene für Patient:innen. So sieht die Realität in Psychiatrien aus, in welchen Straftäter:innen untergebracht sind. Ein Berliner Chefarzt kündigte deshalb kürzlich seinen Job.

    Seit Jahren gibt es bundesweit einen großen Mangel an Fachpersonal für eine menschenwürdige Unterbringung und ausreichende Therapiemöglichkeiten in der forensischen Psychiatrie. Sie ist ein Teilgebiet der Psychiatrie, das sich mit der Begutachtung, der Unterbringung und der Behandlung von psychisch kranken Straftätern befasst.

    Überfüllte forensische Psychiatrien sind in Deutschland bereits die Regel, und die Lebensbedingungen der Patient:innen verschlechtern sich immer weiter. Hinzu kommt ein enormer Mangel an Fachpersonal, wodurch sich die Arbeitsbedingungen der Angestellten ebenfalls zuspitzen.

    Probleme auf allen Ebenen

    Das Fachpersonal ist auf allen Ebenen stark unterbesetzt und entsprechend überfordert: Es mangelt sowohl an Pflegekräften als auch an Therapeut:innen und Ärzt:innen. Die Patient:innen sind die Hauptleidtragenden dieser Situation. Statt Therapie steht tagelanges Warten und Nichtstun auf dem Tagesplan. Gibt es Therapien, finden diese meist unregelmäßig statt.

    Zudem wechseln häufig die Therapeut:innen, sodass die Patient:innen sich immer wieder von Neuem erklären müssen. Dies wirkt sich negativ auf die Gesundheit der Patient:innen aus und führt zu einer Verlängerung ihrer Aufenthaltsdauer im Maßregelvollzug.

    Durch die Überbelegung der Zimmer haben die Patient:innen keine Ruhe. So hausen sie oft auf engstem Raum in einem Zimmer dicht beieinander – ohne Privatsphäre. Sie müssen sich Schränke teilen und haben teilweise nicht einmal Betten, sondern müssen auf Matratzen auf dem Boden schlafen. Auch die fehlende Erreichbarkeit von Ansprechpersonen für die Patient:innen trägt zur Verschärfung der psychischen Belastungen bei.

    Auf Seite der Angestellten bedeuten der Fachkräftemangel und die chronische Unterbesetzung, dass sie mehr Arbeit auf weniger Schultern verteilen müssen. Häufig bleibt gerade einmal Zeit, um die Medikamentenausgabe zu organisieren. Das führt unweigerlich zu einer zusätzlichen Belastung und Überstunden – schlechte Arbeitsbedingungen sind die Folge. Zudem können Sicherheitsstandards nicht eingehalten werden, was die Häufigkeit von Gefahrensituationen erhöht.

    Chefarzt Sven Reiners aus der forensischen Psychiatrie in Berlin hat Anfang des Jahres deshalb seine Kündigung eingereicht. In seinem Kündigungsschreiben hat er laut Medienberichten erklärt: „Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere jedoch die Ereignisse der letzten zwölf Monate, haben zu Zuständen geführt, die ich mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren kann.“ In seiner Mitteilung an die Senatsverwaltung für Gesundheit nennt er die menschenunwürdigen Bedingungen im Maßregelvollzug als Hauptgrund für seinen Rücktritt.

    Bundesauswertung zeigt: Viel zu wenig Personal in der Psychiatrie

    Maßregelvollzug Berlin – Fallbeispiel für das Scheitern

    Seit 2018 prüft in Berlin die Senatsverwaltung für Gesundheit im Rahmen einer Kommission jährlich die 16 Berliner psychiatrischen Kliniken und das Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin (KMV). Hierbei ergab sich Anfang August, dass  611 Patient:innen im KMV untergebracht waren – wobei es eigentlich nur 549 Betten gibt. Das KMV konnte aufgrund der fehlenden Kapazitäten zudem neue Patient:innen nicht mehr aufnehmen. Diese müssen stattdessen auf unbestimmte Zeit in Gefängnissen oder Krankenhäusern warten. Im August 2024 waren 15 Patient:innen im Justizvollzugskrankenhaus und in Justizvollzugsanstalten untergebracht.

    Im Bericht von 2021 wird besonders die Situation von zwei Patient:innen verurteilt: Diese seien seit mehreren Monaten in einem Isolationszimmer untergebracht gewesen. Nach den Vereinten Nationen gilt eine Einzelhaft nach 15 Tagen als Folter und menschenunwürdig. Im Mai diesen Jahres starb in Berlin ein 27-jähriger Mann, der in einem solchen Isolationsraum eingesperrt war. Der Mann erstickte in seiner Zelle – trotz vorgesehener 24-stündiger Überwachung war der Tod zunächst unbemerkt geblieben.

    Patrizia Di Tolla von der Besuchskommission fasst die menschenunwürdigen Bedingungen zusammen: „Die Strukturen im KMV fördern Gewalt.“ Und weiter: „Die große Mehrheit der Patienten haben im KMV keine Beschäftigung, kein Internet, kaum Ausgänge und kaum Kontakte nach außen. Therapiestunden fallen ständig aus. Es gibt nur Langeweile und Frust.“ Es finde keine Behandlung statt. So sei auch keine Rehabilitation möglich.

    Zum Thema Hygiene schreibt das Gesundheitsamt des Bezirks Reinickendorf in seinem Bericht zum KMV über verschimmelte Duschvorhänge, abgelaufene Medikamente und kaputte Türen, Fenster, Decken, Küchen und medizinische Geräte. Der Bericht mit der Benennung der hygienischen Mängel auf den Stationen zieht sich über 41 Seiten.

    Im Fazit des Berichts erklärt das Amt: „Alle Bäder in den Patientenzimmern und von Patienten genutzte Räume sind auf Schimmel, Beschädigungen, Verkalkungen, starke Verunreinigung und schwerwiegende Mängel zu kontrollieren und instand zu setzen. Aktuell haben alle begangenen oben benannten Räume aufgeplatzte Badezimmertüren innenseitig, verschimmelten Silikonfugen sowie verschimmelte / vergilbte Duschvorhänge.“

    Widerstand regt sich

    Schon im Februar diesen Jahres gingen in Berlin Angehörige von Patient:innen unter dem Motto „Menschenunwürdige Zustände im Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin beenden!“ auf die Straße.

    „Wir fordern ein Ende der Unterbringung unter diesen Bedingungen und solidarisieren uns mit den Patient:innen und Angehörigen, die sich gegen die Zustände wehren“, erklärten die Organisator:innen der Kundgebung und ergänzten: „Die Enge, Überbelegung der Zimmer, das Fehlen von Therapien und Beschäftigungsangeboten führen zu mehr Aggression, Depression, Suizidalität und zur Selbstaufgabe der Patient:innen. Ein Angebot an die Patient:innen, das eine Besserung der Symptome und die sogenannte Resozialisierung ermöglichte, die der Staat angeblich mit diesem System anstrebt, gibt es dort nicht.“

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News