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Samstag, April 27, 2024
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    Call Center Kolumne: Anreizsysteme im Callcenter und der Sozialismus

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    Monatliche Callcenter-Kolumne zum Überleben im Mobilfunkdschungel –  von Markus Schneider

    Ein Problem haben mein Chef im Call Center und der Sozialismus gemeinsam: Prämien- und Anreizsysteme haben viele Lücken, die ohne eine Bewusstwerdung die ArbeiterInnen dazu verleiten, ihre Arbeit nur in ihrem eigenen Interesse zu verrichten.

    Eines der größten wirtschaftlichen Probleme in der DDR und der Sowjetunion ergab sich aus ihren Anreizsystemen. Getreu dem Motto „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Leistung“ sollte der einzelne Mensch davon profitieren, wenn er Arbeit im Sinne der Allgemeinheit leistete, und er sollte auch mehr profitieren, wenn er besonders viel leistete.

    Um das zu regeln, wurde in 70 Jahren sozialistischer Versuche mit allen möglichen Anreizsystemen operiert: Mal wurden Prämien ausgeschüttet, wenn bestimmte Stückzahlen überschritten wurden, dann wieder, wenn das Gesamtprodukt ein gewisses Gewicht überschritt. Es gab Prämien für sparsames, effektives Arbeiten mit den Rohstoffen, und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend wieder Prämien für Betriebsgewinne eingeführt.

    Das Problem: Egal, welches Kriterium angesetzt wird – wenn es nicht zugleich ein sozialistisches Bewusstsein gibt, dann lädt jedes Prämiensystem zur Manipulation ein. Entweder werden minderwertige Materialien verbaut, um das Gewicht zu erhöhen, oder es wird schnell eine bestimmte Stückzahl ohne Rücksicht auf die Qualität erstellt. Dass diese Probleme tatsächlich auftraten, ist aus den ökonomischen Diskussionen in sozialistischen Staaten heute bekannt.

    Call Center Kolumne: Quote, Quote, Quote!

    Ganz ähnlich geht es meinem Arbeitgeber im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Der setzt nämlich auch Prämiensysteme ein, damit wir „KundenbetreuerInnen“ möglichst in seinem Sinne agieren, also zuvorderst viele Verträge verkaufen. Gleich vorweg: Unterm Strich lohnt sich dieses System mit Sicherheit, und wenn ich schon ein paar Euro für jede Vertragsverlängerung bekomme, ist das sicherlich viel, aber doch nur ein Bruchteil vom Extraprofit, den ich damit dem Unternehmen verschaffe.

    Trotzdem bringt die reine Orientierung auf „Abschlüsse“ interessante Effekte mit sich. Zum Beispiel habe ich schon einige KollegInnen erlebt, die zwar darauf achten, KundInnen, die sich nach ihrer Einschätzung sofort beschweren würden, keine ungewollten Verträge unterzujubeln (um die Mindestquote der Kundenzufriedenheit nicht zu unterschreiten). Wenn sie jedoch die Einschätzung haben, dass diese nicht innerhalb von zwei Wochen widerrufen werden, sieht das ganz anders aus. Dann nämlich ist die Frist abgelaufen, nach der Prämien an uns ausgezahlt werden. Ob das Unternehmen dann einen langen Rechtsstreit führt und eventuell verliert, ist egal.

    Natürlich führt die Kombination von Mindestlohn und vergleichsweise hoher Prämie vor allem dazu, dass die KollegInnen versuchen, am Telefon starken Druck auf die KundInnen auszuüben, damit sie jetzt sofort und noch am Hörer ihren Vertrag verlängern. Das ist aber keinesfalls mit einer Loyalität gegenüber dem Unternehmen zu verwechseln. Denn wenn es z.B. technische Lücken im System gibt, die es erlauben, den Kunden bessere Angebote zu machen als eigentlich zulässig, dann werden auch diese gerne und ausgiebig genutzt.

    Call Center Kolumne: „Ich schicke es Ihnen einfach mal trotzdem zu…“

    Die KundInnen zur Kündigung aufzufordern bzw. ihnen Kündigungen anzutragen, um so attraktivere Angebote stellen zu können, ist so ein Beispiel. Das Unternehmen gibt zwar regelmäßig die Anweisung nach unten durch, so etwas dringend zu unterlassen, es wird sogar als „Betrugsversuch“ gewertet. Wirklich einschränken kann das diese Praxis aber nicht, denn gerade KundInnen, die sich auch über die Konkurrenz informieren, werden fast nie den – im Vergleich zu Neukundenverträgen deutlich schlechteren – Konditionen einer Vertragsverlängerung zustimmen, wenn nicht wenigstens zuvor das Angebot durch eine angedrohte Kündigung aufgewertet wurde. Dem Unternehmen wiederum scheinen die Kapazitäten zu fehlen, um hunderte MitarbeiterInnen zu überwachen und diese Praxis auszumerzen.

    Wir können festhalten: Prämiensysteme sind eine effektive Methode, um die Anstrengungen der ArbeiterInnen zu steigern. Wenn sie nicht mit einer “Arbeit” am eigenen Bewusstsein einhergehen, führen sie aber nur dazu, dass das Maximum für den eigenen Geldbeutel bei einem möglichst geringen Aufwand heraus geholt wird. Im Callcenter handeln meine KollegInnen daher oftmals abwechselnd entweder gegen die Interessen ihrer KundInnen oder gegen die des Unternehmens – einfach, um „ihre Zahlen zu schaffen“.

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