Die Vize-Chefin der Weltbank, Carmen Reinhart, geht von weltweiten sozialen Unruhen in Folge der Preissteigerungen aus. Sie fordert deshalb Zinserhöhungen – auch auf die Gefahr hin, dass dann ein Finanzcrash und eine vertiefte Wirtschaftskrise folgen. Ihr interview zeigt die Unmöglichkeit kapitalistischer Krisenbewältigung auf. – Ein Kommentar von Tim Losowski.
Noch vor wenigen Monaten hatten führende kapitalistische Ökonom:innen die „Inflation“ als vorübergehend bezeichnet. Erst Ende November vergangenen Jahres erklärte die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, in der FAZ: „Der Anstieg der Inflation ist nicht von Dauer“. Keine Zwei Monate rudert sie zurück.
Dass die Preissteigerungen bleiben werden, scheint sich mittlerweile unter führenden kapitalistischen Ökonom:innen durchzusetzen. So erklärte Carmen Reinhardt, die Vize-Chefin der Weltbank, in einem aktuellen Interview mit dem Spiegel: „Die Inflation ist hartnäckig und wird nicht so schnell verschwinden.“
Ein Blick in das Interview offenbart sowohl die Unmöglichkeiten kapitalistischer Krisenbewältigung als auch das offene Auge kapitalistischer Strateg:innen für kommende Klassenkämpfe.
Weltweit Preissteigerungen
Die Preissteigerungen sind nicht nur ein Thema in Deutschland. In 44 Prozent der fortgeschrittenen Volkswirtschaften und drei Viertel der Schwellen- und Entwicklungsländer beträgt die Inflation jetzt bereits 5 Prozent oder mehr.
Doch schon bei der Erklärung dieser Entwicklung fängt Reinhardt an zu stottern. Die Hintergründe seien sehr komplex, dazu gehörten unterbrochene Lieferketten, hohe Transportkosten, Fachkräftemangel. Zentrale Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise führt Reinhardt bei der Aufklärung über Hintergründe der Teuerungen nicht an.
Leitzins-Erhöhung mit Crash-Gefahr
Stattdessen spricht die Weltbänkerin fast ausschließlich über die Notenbanken und deren Leitzins: „Die Zentralbanken haben es versäumt, rechtzeitig und angemessen auf die Inflation zu reagieren“, so Reinhardt. Die aktuellen Planungen der amerikanischen Notenbank, den Leitzins zu erhöhen, seien viel zu gering und reichten nicht für einen Wende-Zyklus aus. In Europa sei die EZB noch zurückhaltender.
Der Hintergrund ist klar: für Jahre lag der Leitzins der EZB bei 0 Prozent. Das bedeutete, dass sich europäische Banken und Unternehmen „kostenlos“ Geld leihen konnten. Dadurch entstanden auch sogenannte „Zombie-Unternehmen“ – also Unternehmen, die nur aufgrund des billigen Gelds am Leben erhalten wurden. Wenn die Leitzinsen steigen, müssen verschuldete Unternehmen auf einmal neue Kosten für ihre Schulden aufwenden – ebenso wie für neu geliehenes Geld.
Das thematisiert auch Reinhardt: „Viele Unternehmen sind miserable Schuldner, es gibt viel zu viele Ramsch-Anleihen“. Als Schuldige macht sie nicht das kapitalistische System aus, sondern holt den „gierigen Bänker“ aus der Mottenkiste der Sündenböcke für die Weltwirtschaftskrise 2007/2008. Auch heute würden diese ihre Kreditvergabe an viel zu „laxe Bedingungen“ knüpfen. Somit gebe es also allein mit Blick auf die Finanzmärkte genug Gründe, warum eine Zinswende „gefährlich enden könnte“.
Reinhardt: Notenbanken nicht unabhängig
Viele kapitalistische Ökonom:innen verweisen an dieser Stelle oft auf die Unabhängigkeit der Zentralbanken, die die Aufgabe hätten, eben die Finanzstabilität des Kapitalismus zu sichern. Reinhardts nüchternes Urteil: „Die Zentralbanken sind nur auf dem Papier unabhängig, aber nicht de facto“. Keine Zentralbank wolle diejenige sein, die „die Aktien- und Vermögenspreise zum Einsturz bringt“ – also mit einer Zinswende die Zombie-Unternehmen pleite gehen lässt und die Kapital-Zerstörung einleitet, die seit der Weltwirtschaftskrise 2008 aufgeschoben wurde.
„Es gibt eine echte Asymmetrie: Die Zentralbanker reagieren immer sehr entschlossen, wenn eine Krise auftritt. Aber wenn es darum geht, die Geldpolitik nach der Krise zu straffen, sind sie sehr zaghaft“, so bringt Reinhardt die kapitalistische Realpolitik in Sachen Leitzins auf den Punkt. Während in der Krise Großkonzerne noch mit milliardenschweren Rettungspaketen gestützt werden, werden sie im Aufschwung nicht zur Kasse gebeten.
Was ist also das Ergebnis von Reinhardts Ausführungen? Die Leitzinsen nicht zu erhöhen, bedeutet weitere Inflation; sie aber zu erhöhen, könnte einen wilden Finanzcrash auslösen. Doch diejenigen, die das durchführen, sind nicht in Sicht – Reinhardt offenbart in ihrem Interview die Unmöglichkeit der kapitalistischen Krisenpolitik.
Teuerungen bergen Potenzial für Klassenkämpfe
Auch für die Auswirkungen der Krise ist Reinhardt nicht blind: „Die Menschen haben weniger Geld im Portemonnaie, und sie merken es jetzt, bei den Wohnkosten, den Energiekosten, den Lebensmittelpreisen.“ Zum ersten Mal seit 1998 seien die Armutsquoten gestiegen. Zugleich werden die wenigen Superreichen immer reicher. Reinhardt bringt die Folgen auf den Punkt: „Die Gefahr sozialer Unruhen nimmt zu, wenn der Kuchen schrumpft und auch noch ungerechter verteilt wird“.
Sie prognostiziert eine neue Welle von Klassenkämpfen. Auch „der arabische Frühling hatte viel mit den steigenden Lebensmittelpreisen zu tun“. Ähnliche Phänomene habe man auch in Lateinamerika gesehen.
Für Reinhardt sind das „hohe Kosten“, die entstehen würden – die Frage ist nur, für wen? Denn wir Arbeiter:innen können durch solche Klassenkämpfe nur gewinnen: indem wir Zugeständnisse erstreiten und lernen, für eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu kämpfen, in der Teuerungen und Krise der Vergangenheit angehören.