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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Wie sich Christian Schmidt in Bosnien und Herzegowina als Kolonialherr aufführt

Kürzlich machte die Nachricht die Runde, dass der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, ein Deutscher, bei einer Pressekonferenz ausgeflippt sei. Wirklich zum Ausflippen ist aber, dass es dieses Amt überhaupt noch gibt. – Ein Kommentar von Paul Gerber

Die Nachricht wurde von einigen deutschen Medien aufgegriffen, seit vergangenem Mittwoch geistert ein Video durch Online-Presseportale. Darauf zu sehen: Ein wütender Bayer mit schwindendem Haupthaar schreit herum. Der Bayer ist jedoch nicht irgendwer, sondern seit 2021 der sogenannte „Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina“.

Zu sehen ist, wie Schmidt in einem Englisch, das nur ein sehr wohlwollender Zuschauer als „verhandlungssicher“ bezeichnen kann, wie ein Rohrspatz über die lokalen Politiker schimpft. Sie würden immer nur jammern und nichts konstruktiv voran bringen. Er hingegen würde sich um das Land kümmern, in dem er steht.

Eigentlich ist diese Szene aber keinen Lacher wert, denn so absurd es für Zuschauer:innen in Deutschland klingt, die mit den ewigen Selbstbeweihräucherungen der BRD aufgewachsen sind, man stehe für Demokratie und Fortschritt in der Welt: Der Deutsche, dieser Herr Schmidt, ist der mächtigste Mann in Bosnien-Herzegowina, er kann das Land faktisch regieren, hat Vollmachten, Gesetze zu erlassen und hohe Beamte oder sogar gewählte Politiker zu entlassen. Natürlich wurde er nicht gewählt, sondern als Vertreter der Vereinten Nationen eingesetzt.

Der „Hohe Repräsentant“ will ein neues Wahlsystem durchsetzen

In seinem Amt des Hohen Repräsentanten steht Schmidt an der Spitze eine Staatsapparats, der oft beschönigend als „kompliziertestes Regierungssystem der Welt“ bezeichnet wird. Man könnte auch sagen: Der Staat ist ineffizient, basiert auf Klientelpolitik und ethnischer Spaltung.

Da die Sieger des Bosnienkriegs offenbar damals den Menschen in Bosnien nicht zutrauten, zusammenzuleben ohne sich gegenseitig zu überfallen und das Leben zu nehmen, wurde ein auf drei Nationen basierendes System eingeführt: Serben, Bosniaken und Kroaten wählen jeweils ihre eigenen Vertreter und haben teilweise eigene Regierungsinstitutionen. Zugleich ist die Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina aber in ihrer nationalen Herkunft sehr gemischt: es gibt lediglich einige Regionen, in denen der eine oder der andere Bevölkerungsteil die Mehrheit stellt.

Die „Qualität“ der deutschen Berichterstattung wird schon daran deutlich, dass es scheinbar niemand für nötig hielt, den tatsächlichen politischen Grund für Schmidts Ausraster darzulegen. Der wollte nämlich für die anstehenden Wahlen im Oktober eine Wahlrechtsreform durchsetzen, nach der davon abhängig sein soll, wie viele Vertreter einer bestimmten Volksgruppe in einem Kanton leben, damit diese überhaupt einen eigenen Vertreter wählen können.

Aufgrund der Bevölkerungsverteilung wäre dies offenbar vor allem für kroatische Parteien vorteilhaft, während bosnische Parteien um ihren Einfluss fürchten. Wenig überraschend finden es aber auch die einfachen Bosniaken nicht gerade lustig, dass mit einer solchen Wahlrechtsreform ihre Stimme massiv entwertet wird, weil sie in einer Region leben, in der die überwiegende Mehrheit zum Beispiel von Kroat:innen gestellt wird.

Schmidt ist ein moderner Kolonialherr, wie er im Buche steht

Schmidts Ausraster erfolgte als Antwort auf die Frage einer Journalistin, ob er seine Vollmachten nutzen würde, um seinen Willen durchzusetzen, wenn sich die gewählten Politiker:innen nicht einigen könnten. Wohlgemerkt beantwortet Schmidt die Frage nicht. Muss er aber auch nicht, denn das hat er bereits vor wenigen Wochen getan.

Ende Juli sagte er nämlich bei einer Pressekonferenz: „Ich habe heute sehr deutlich mit den Führungspersonen der wichtigsten Parteien der Föderation gesprochen. Ich erwarte Ergebnisse. Ich erwarte von ihnen, dass sie etwas für das Land und für die Menschen des Landes tun, in dem sie leben. Das ist kein freundlicher Tonfall, das ist ihre Pflicht. Gelingt ihnen das nicht, werde ich auf Grundlage des Dayton-Friedensabkommens die Verantwortung übernehmen, die mir von den Unterzeichnern übertragen wurde.“

Man muss nur Schmidts Worte lesen und sieht das wahre Gesicht der „freien Welt“ im 21. Jahrhundert: Der Deutsche bringt es fertig, nicht nur Migrant:innen in Deutschland zu belehren, dass sie etwas leisten müssten für das Land, in dem sie leben, sondern sagt Politiker:innen in ihrem Land genau das gleiche. Schmidt lebt uns offen vor, wie sich ein moderner Kolonialgouverneur verhält.

Nur die Menschen in Bosnien und Herzegowina selbst können sich befreien

Der Vorgang macht gleich verschiedene Dinge deutlich: Der eigentliche Skandal besteht nicht in der Untätigkeit der bosnischen Politiker:innen oder Schmidts komischen Englisch, sondern darin, dass Bosnien und Herzegowina faktisch eine deutsche Kolonie ist. Außerdem werden wohl keine Reformen des derzeitigen Wahlsystems zu einer wirklichen Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit des bosnischen Staates führen. Sie verschärfen viel mehr Spannungen zwischen Volksgruppen und wecken Ängste der lokalen Politiker, ihren bequemen Platz im Parlament einzubüßen.

Voran wird es für die bosnische Bevölkerung wohl nur gehen, wenn sie religiöse und ethnische Grenzen einreißt und das aktuelle System, das ihnen einen Interessensvertreter der größten europäischen Konzerne als obersten Staatsmann vor die Nase setzt, gleich mit.

Paul Gerber
Paul Gerber
Paul Gerber schreibt von Anfang bei Perspektive mit. Perspektive bietet ihm die Möglichkeit, dem Propagandafeuerwerk der herrschenden Klasse in diesem Land vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse aus etwas entgegenzusetzen. Lebensmotto: "Ich suche nicht nach Fehlern, sondern nach Lösungen." (Henry Ford)

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