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Montag, Oktober 14, 2024
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    Interview mit “Don’t Pay UK”: “Millionen von Menschen zahlen bereits nicht mehr”

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    Im Sommer wurde die Kampagne “Don’t Pay UK” international bekannt. Sie ruft im Vereinten Königreich dazu auf, die steigenden Energierechungen zu bestreiken. Perspektive Online hat Sprecher:innen der Kampagne interviewt.

    Perspektive Online: Was ist der aktuelle Stand der Lebenshaltungskosten-Krise im Vereinten Königreich?

    Don’t Pay: Wie viele Wirtschaften sind auch wir mit einer steigenden Inflation konfrontiert, die derzeit bei 11,1% angelangt ist, dem höchsten Stand der letzten 40 Jahre. Aber diese Zahl ist bei Dingen wie der Miete, Energierechnungen und Lebensmitteln viel höher. Aufgrund der durch Jahrzehnte der Deindustrialisierung verursachten regionalen Ungleichgewichte werden Regionen im Nordosten und Nordwesten noch viel schlimmer getroffen.

    Die Löhne der Arbeiter:innen halten mit den Preissteigerungen einfach nicht Schritt, was einen exponentiellen Anstieg von Armut und Hunger bedeutet hat. Die Prognose für die nächsten zwei Jahre ist ein Abfall des Haushaltseinkommens von 7% für die große Mehrheit und es wird erwartet, dass eine halbe Million Arbeiter:innen ihre Jobs im nächsten Jahr verliert.

    Zur gleichen Zeit hat das UK noch immer eine der reichsten Wirtschaften der Welt, in der sich das Vermögen der Superreichen seit und während der Pandemie stark vermehrt hat.
    Ein Großteil des Einkommens der Arbeitnehmer wird durch Sozialleistungen und Konsumschulden aufgestockt, die sich mittlerweile auf Rekordniveau befinden.

    Der wichtigste Bereich der Haushaltsausgaben sind dabei die Energierechnungen, die seit April 2021 um rund 200% gestiegen sind.

    PO: Eure Kampagne heißt „Don‘t pay UK“ („Zahlt nicht! UK“). Was zahlt ihr nicht und warum? Und ist das nicht illegal?

    Don’t Pay: Wir weigern uns, die gestiegenen Energierechnungen zu zahlen, da die Preisanstiege pure Profitmacherei der großen Öl- und Gaslieferanten mitten in einer Krise sind. Während die Rechnungen gestiegen sind, sind es auch die Profite von Konzernen wie Shell oder BP, die jedes Quartal mehr Geld machen als je zuvor.

    Als die Energiepreise so stark anstiegen und zeitweise sogar eine Preisexplosion von 700% für den April 2023 vorhergesagt wurde, mussten wir handeln und die Idee des Nicht-Bezahlens zu einer gesellschaftlich akzeptierten machen.

    Nicht-Bezahlen von Energierechnungen ist kein Straftatbestand. Man kann dafür also nicht ins Gefängnis gehen. Natürlich gibt es aber wie bei allen vertraglichen Angelegenheiten eine Reihe von Disziplinarmechanismen, die die Konzerne nutzen können und auch tatsächlich nutzen.

    PO: Welche Maßnahmen könnten die Energie-Konzerne, Vermieter oder staatlichen Institutionen ergreifen und welche Gegenmaßnahmen plant ihr?

    Don’t Pay: Die allgemeine Herangehensweise der Energiekonzerne ist es, den Leuten Angst zu machen. Jede verschickte Rechnung enthält Erinnerungen für die Konsequenzen ausbleibender Zahlungen. Diese reichen von Strafzahlungen bis zur Eskalation mit Schuldeneintreiber-Agenturen und einem schlechten Kredit-Score.

    Als unsere Initiative im Juli und August einen Höhepunkt hatte, gab es sogar eine Gegenkampagne von Charity- und Interessensvertretungsorganisationen, die sich dem Thema der Energieschulden widmen. Sie verbreiteten die von den Energiekonzernen in die Welt gesetzten Schauermärchen über die Folgen des Nicht-Bezahlens und weigerten sich einzusehen, dass wir in Aktion treten würden, sobald eine Million Menschen sich ebenfalls dazu bereit erklären würde.

    Was die Vermieter:innen angeht, sind die Energierechnungen nur in den wenigsten Fällen Teil der Miete. Es handelt sich also um eine Angelegenheit zwischen Dir und Deinem Energieversorger.

    Wir hatten die Reaktionen schon zuvor bedacht und auch, was es heißen würde, den „Streik zu verteidigen“. Deshalb mussten wir von Anfang an Menschen als Organisator:innen für kleine lokale Gruppen rekrutieren, welche auf der Ebene von Postleitzahlen aufgebaut wurden. Durch die von uns aufgebaute Plattform ermöglichten wir es, allen Unterstützer:innen Links für die WhatsApp-Chats der lokalen Gruppen zu schicken.

    Unser Plan war es, dass diese Gruppen, von denen über 600 aufgebaut wurden, zur organisatorischen Grundeinheit des Streiks werden würden.

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    PO: Der deutsche Energiekonzern E.ON hatte Angst vor Eurer Kampagne. Könnt Ihr dem deutschen Publikum mehr darüber erzählen?

    Don’t Pay: Im August hörten wir, dass die größeren Energiekonzerne Angst vor der Aussicht bekamen, dass mehrere Millionen Menschen sowohl aktiv als auch passiv mit ihren Energierechnungen in Verzug geraten würden.

    Um zu verdeutlichen, wie groß diese Angst war: Zu dieser Zeit zeigten mehrere Meinungsumfragen größerer Zeitungen und Finanzinstitutionen, dass 74% der Menschen von „Don‘t Pay UK“ gehört hatten, über drei Millionen Menschen planten, beim Rechnungsstreik mitzumachen und davon mehr als 50% wegen unserer Kampagne.

    Wie groß die Angst der Konzerne tatsächlich war, fanden wir aber erst heraus, als ein Journalist von Open Democracy Dokumente einer Präsentation von E-ON erhielt, die sie der Regierung gezeigt hatten und in der sie darlegten, dass sie 43 Millionen Pfund monatlich wegen der Kampagne verlieren könnten und dass dies eine „existentielle Bedrohung“ für die Energieindustrie darstelle.

    Tatsächlich stellten wir eine solche Bedrohung dar, was auch der Hauptgrund für die Höhe der Energiepreisgarantie war, die durch die damalige Premierministerin Liz Truss eingeführt wurde.

    PO: Euer erstes Ziel war es, eine Million Menschen dazu zu bringen, sich bereit zu erklären, ab dem 1. Oktober in einen „Bezahlstreik“ zu treten. Zu diesem Zeitpunkt habt ihr etwa 200.000 Menschen erreicht, jetzt sind es 255.000 und ihr habt zu einem Streik am 1. Dezember aufgerufen. Werden genug Leute mitmachen, um einen Einfluss auszuüben?

    Don’t Pay: Wir haben entschieden, zu einer Bestreikung der Energierechnungen aufzurufen, weil sehr klar wurde, dass bereits Millionen von Menschen nicht zahlten. Entweder, weil sie nicht zahlen konnten oder aber, weil sie dies verweigerten.

    Der Streik ab dem 1. Dezember bestätigt lediglich diese Realität. Die Nutzung der Bereiterklärungen auf der Webseite war ein nützliches Instrument, um Menschen zu mobilisieren und zu aktivieren, aber jetzt sind wir in einer Phase der Artikulierung der allgemeinen Umstände der Nicht-Zahlung.

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    PO: Welche Maßnahmen ergreift ihr, um die die nötige Unterstützung an der Basis, auf der Straße und in den Vierteln zu schaffen?

    Don’t Pay: Wir organisieren „Don‘t Pay“ durch eine wöchentliche regionale Koordination. Diese besteht aus Gruppen aus dem ganzen Land, die wiederum kleinere Gruppen vertreten. Diese Gruppen entwickeln eine Praxis gegenseitiger Hilfe, von lokalen Spendensammlungen bis hin zur Schaffung von Anlaufstellen in den Nachbarschaften. Das Ziel ist es, Selbstbewusstsein und einen Fokus darauf zu schaffen, einander zu helfen und zu verteidigen.

    PO: Wie hängt eure Kampagne mit anderen, zum Beispiel „Enough is Enough“ („Genug ist Genug“) zusammen?

    Wir haben den Start von „Enough is Enough“ (EiE) im August begrüßt. Sie hat wirklich großen Anklang gefunden und es geschafft, über 800.000 Menschen zu gewinnen. Die Versammlungen, die sie organisiert haben, gehörten zu den größten seit dem Höhepunkt der Corbyn-Bewegung. Allerdings hat sie sich geweigert, mit anderen zusammen zu arbeiten, auch nicht mit „Don‘t Pay“.

    Das ging bis zu dem Punkt, dass sie unsere Existenz nicht einmal anerkannten. Das gilt auch für andere Bewegungen und linke Organisationen.
    Wir denken, dass EiE von einer sehr kleinen Gruppe des linken Flügels der Labour-Partei kontrolliert wird, die von der Beliebtheit des Projekts überrascht war, aber sehr sektiererisch und kontrollierend mit EiE umgeht. Leider ist seit den Demonstrationen am 1. Oktober, zu denen ursprünglich „Don‘t Pay“ aufgerufen hatte, wenig passiert, um die über 800.000 Menschen zu aktivieren oder einzubinden.

    PO: Welche Lehren können Bewegungen gegen die Lebenshaltungskosten-Krise aus eurer Kampagne ziehen?

    Don’t Pay: Dieses System braucht unsere Teilnahme im Gegenzug für unsere Fähigkeit, uns am Leben zu halten. Aber in der aktuellen Periode sehen wir, wie dieses widersprüchliche System zusammenbricht. Es war der klarste Kontext, in dem wir gearbeitet haben – die Menschen werden sichtbar ärmer und sind mit etwas konfrontiert, dass sie als enorme Ungerechtigkeit einschätzen.

    Was wir gemacht haben, war das Problem zu benennen, über das Millionen Menschen reden und das kollektive Aktion herbeiführen und die Ausbeuter-Natur dieses Systems entlarven konnte. Dafür haben wir sehr einfache Forderungen und einen sehr einfachen Plan aufgestellt. Wir haben die Kampagne nicht genutzt, um über die üblichen linken Belange zu reden.

    Wir haben den Kapitalismus nicht erwähnt, auch nicht den Ukraine-Krieg oder andere Themen. Diese sind natürlich sehr wichtig, aber wir wollten uns in einer sehr konkreten Art mit dem Thema verbinden, um Menschen zu aktivieren – so haben etwa 10.000 Menschen Flyer von der Webseite bestellt – und das mit einem Plan und einer Strategie, die auch funktionieren würden. Also: Haltet die Dinge praktisch und konkret, vertraut den Leuten und macht es einfach für sie, sich einzubringen.

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