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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Woher kommt die Wut auf diesen Staat?

Wie jedes Jahr geht es heiß her an Silvester, und in Berlin sowieso. Nun ist es zum Jahreswechsel zu Ausschreitungen gekommen. Bürgerliche Politiker:innen, die Mainstreampresse und die Polizei schäumen vor Wut und fordern ein hartes Durchgreifen. Eine Frage beschäftigt die bürgerlichen Kommentator:innen hierbei am meisten: Warum fürchtet man sich hier nicht vor dem staatlichen Gewaltmonopol? – Ein Kommentar von Phillipp Nazarenko

Zuallererst lohnt sich festzuhalten, spontane Rebellionen gegen die organisierte Staatsmacht und seinen Gewaltapparat werden nichts grundlegend an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in diesem Land ändern. Und was war das an Silvester anderes als ein spontanes Rauslassen von Wut?

Es ist nichts fortschrittliches, wenn Menschen mit Böllern, Feuerwerk oder ähnlichen Brandsätzen wild und ziellos rumknallern. Noch schlimmer ist es, wenn Unbeteiligte dadurch verletzt werden.

Trotzdem: Es ist ein gesellschaftliches Phänomen, zu dem wir Stellung nehmen müssen. Warum haben hier Leute keinen Respekt vor der Staatsgewalt? Warum hyperventilieren die bürgerlichen Kräfte deswegen? Und woher kommt eigentlich der ganze Hass auf das System?

Woher kommt die Wut?

Der CDU-Mann Dennis Radtke drückt sich so aus, dass „wir es in einigen Vierteln, quer durch Deutschland, mit einem Mix aus gescheiterter Integration, Armut, Arbeitslosigkeit, Frust und Ablehnung des Systems zu tun haben.“ Auch wenn der Herr Sozialpolitiker es nicht so meint, kommt seine „Analyse“ der Realität schon ziemlich nah. Wir leben in einem Land, in dem die Menschen täglich ärmer werden, weil steigende Preise für Lebensmittel, Transport, Energie und Heizung ihnen das wenige Ersparte wegfressen; in dem die staats- und konzerntreuen DGB-„Gewerkschaften“ eine Reallohnsenkung nach der anderen aushandeln und uns dann als „Erfolg“ verkaufen. Hier werden Menschen durch Hartz 4, auch wenn es jetzt Bürgergeld heißt, psychisch zerstört und erniedrigt. Hier sind Polizeigewalt und Schikane vom Amt zunehmend Alltag, besonders für Menschen, die keinen deutschen Pass oder eine den Beamten genehme Hautfarbe haben und nicht selten endet das tödlich.

Polizeigewalt in Berlin, Mannheim, Dortmund: Wenn Polizei und Staat ihr wahres Gesicht zeigen

Wenn Herr Radtke von Frust spricht, trifft er den Nagel so ziemlich auf den Kopf. Wer hätte auch ahnen können, dass Jugendliche von Zukunftsaussichten nicht begeistert sein könnten, die nur Umweltzerstörung, Militarisierung, Armut und Krieg für sie bereithalten? Doch Grund für Frust hat nicht nur die Jugend. Dass die Rente schon heute für viele Rentner:innen kein menschenwürdiges Dasein mehr zulässt, ist bekannt. Bisher wohl eher ein dumpfes Bauchgefühl ist die Tatsache, dass ein Großteil derjenigen, die heute arbeiten, auf genau die gleiche Situation zusteuern.

Aber auch das menschenverachtende Krisenmanagement während der Coronapandemie lässt grüßen. Erinnert sich noch jemand daran wie Millionen von Arbeiter:innen in die Kurzarbeit geschickt wurden, während die großen Unternehmen ihre Profite mit unserem Steuergeld aufstocken durften? Und wie war das nochmal mit der Ausgangsperre in der Freizeit, aber komplett lückenhaftem Gesundheitsschutz in den Schulen und Werkshallen?

Überraschend sind also nicht solche Wutausbrüche an Silvester, sondern vielmehr, dass sie nicht schon viel früher und viel heftiger entstanden sind. Die Reaktionen in den Medien und von Politiker:innen sind trotzdem hysterisch versuchen sich darin zu überbieten, wer mehr Repression und „härteres Durchgreifen“ fordern kann.

Gewaltmonopol und Rebellion

So findet beispielsweise Ulrich Reitz, als Scharfmacher von Fokus-Online, selbst für bürgerliche Kreise erstaunlich harte Worte: „Eine verantwortungsvolle Bundesregierung würde anders reden. Nicht vom „Einwanderungsland Deutschland“, dessen Auch-Folgen man zum Jahreswechsel studieren konnte. Sondern von Grenzen der Migration. Von unerwünschter Einwanderung, von unkontrollierter Migration, von der Bekämpfung migrantischer Kriminalität und davon, wie man einem asozialen Subproletariat überhaupt noch beikommen kann“.

Man könnte glatt glauben, das Gelesene stamme aus einer Resolution von einem Parteitag der AfD. Was hier zum Vorschein kommt, ist dass der Sündenbock schon bereit steht. Wie so oft sind es die Migrant:innen, beziehungsweise meist dann die migrantischen Jugendlichen, männlich und „sozial schwach“. Dass sind die Leute mit denen man kein Mitleid zu haben braucht. Nachfragen, ob der Hass auf den Staat und die gegenwärtigen Verhältnisse nicht berechtigt sein könnte? Nicht in diesen Medien. Der Trick ist simpel und altbewährt. Wer denkt denn noch über die oben genannten Probleme nach, wenn es ein paar jugendliche Raudis zu Bestrafen gilt? Wie könnte man jemals auf die Idee kommen, dass Arbeiter:innen irgendwelche gemeinsamen Interessen mit diesen angeblichen „migrantischen Assozialen“ haben könnten?

Am Ende bleibt zu den Krawallen an Silvester vor allem zu sagen, dass bisher nur wenige Menschen in Deutschland das absolute Gewaltmonopol des Staates öffentlich in Frage stellen. Jede Rebellion gegen dieses Gewaltmonopol, sei sie auch so ziellos und inhaltsarm, gefährdet seine Legitimation.

Zurecht fürchten die Politiker:innen der Landesregierungen und in den Innenministerien, dass sich die Wut und der Frust, der sich an Silvester entladen hat, eines Tages mit politischen Bewusstsein und einer revolutionären Organisation verbinden könnte.

Noch sind wir in Deutschland weit von einer Situation wie zum Beispiel aktuell im Iran entfernt, wo die Menschen mit Todesverachtung Polizei und Militär entgegentreten. Doch schon der bloße Gedanke daran, treibt einigen Herrschaften in diesem Land Angstschweiß auf die Stirn und lässt sie aufgeregt von „Verachtung auf diesen Staat“ schwadronieren.

Phillipp Nazarenko
Phillipp Nazarenko
Sächsischer Perspektiveautor seit 2022 mit slawisch-jüdischem Migrationshintergrund. Geopolitik, deutsche Geschichte und der palästinensische Befreiungskampf Schwerpunkte, der Mops das Lieblingstier.

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