Vor drei Jahren nahm ein faschistischer Täter neun jungen Menschen in Hanau das Leben. Dass wir nun von den staatlichen Verstrickungen wissen, ist vor allem den scheinbar unermüdlichen Familien zu verdanken. Vieles ist jedoch gleichgeblieben: Um mit den Kontinuitäten rechten Terrors zu brechen, braucht es einen antifaschistischen Aufbauprozess. – Ein Kommentar von Olga Wolf.
Zum dritten Mal in Folge gedenken wir am 19. Februar Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Schon wenige Tage nach dem Attentat war den Angehörigen klar, dass sie selbst treibende Kräfte der Aufklärung werden müssen, um deren Sorgfalt und Richtigkeit sicherzustellen. Die “Initiative 19. Februar” dokumentiert akribisch, wie sich staatliche Akteur:innen selbst widersprechen, vertuschen, täuschen und Ermittlungen schlicht behindern.
Angehörige übernehmen die Aufklärung
Ein Beispiel dafür sind die Untersuchungen zum nicht besetzten Notruf in der Tatnacht: Vili Viorel Păun hatte den Mut, einen Rettungsversuch zu unternehmen und den Notruf zu wählen. Dieser war nicht ausreichend besetzt und eingehende Anrufe wurden nicht weitergeleitet – Păuns Notruf lief ins Leere. Der hessische Innenminister Beuth erklärte dem Innenausschuss fälschlicherweise genau das Gegenteil, die Telefone seien mit zwei, sogar drei Beamt:innen besetzt gewesen.
Ermittlungen dazu, wie viele Fehlerquellen seitens der Polizeibehörde an dem Abend zusammenkamen, lehnte die Staatsanwaltschaft Hanau ab: Es sei nicht sicher, dass der Anruf Vili Viorel Păuns Leben hätte retten können. Nicolescu Păun nahm dazu Stellung im Untersuchungssausschuss: „Am 18. Juni 2021 wurde mein Sohn vom Ministerpräsidenten Volker Bouffier posthum mit der Ehrenmedaille für Zivilcourage ausgezeichnet. Doch nur 10 Tage später unterstellt die Staatsanwaltschaft Hanau Vili, dass er womöglich nicht auf den Rat der Polizei gehört hätte.“ Dementsprechend müsse man auch nicht untersuchen, ob ein behördlicher Fehler vorlag.
Bundesweit finden am 19. Februar Aktionen statt, die fordern, dass Konsequenzen aus dem Attentat gezogen werden. So unterschiedlich die geforderten Konsequenzen auch sind, es sticht ins Auge, welche naheliegenden Konsequenzen nicht gezogen wurden: Obwohl es in der Einsatzgruppe, die in der Tatnacht im Dienst war, rechte Chatgruppen gab, sind diese Beamten weiterhin im Dienst. Ein Untersuchungsausschuss zum Anschlag tagt noch bis Mitte 2023, auch dieser wird kritisch begleitet.
Erinnern heißt kämpfen – Über 90 Aktionen in Gedenken an den Anschlag von Hanau angekündigt
Solidarität unter Überlebenden, Angehörigen und Antifaschist:innen
Der 19. Februar wird zu einem weiteren Symbol für den Kampf gegen rechten Terror in Deutschland. Tausende gedenken nicht nur der neun jungen Menschen, die in Hanau ermordet wurden, sondern auch der anderen Opfern rechter Gewalt.
Auf den Gedenkveranstaltungen kommen Überlebende und Angehörige der Anschläge von Mölln, der NSU-Morde oder des Brandanschlags in Solingen zu Wort – Unterstützt von tausenden Antifaschist:innen.
Anhand ihrer Schilderungen werden gleich mehrere Kontinuitäten sichtbar: Der rechte Terror an sich, aber auch die Rolle der staatlichen Stellen in der (Nicht-)Aufklärung und der Rassismus, der den Angehörigen und Überlebenden von dieser Seite entgegenschlägt.
Aufräumen mit dem Mythos Einzelfall
Trotz all dieser Kontinuitäten wird der Mythos vom faschistischen Einzeltäter hartnäckig aufrechterhalten. Das ist kein Wunder, denn antifaschistische Recherchen decken immer häufiger auf, wie gut rechte Strukturen vernetzt sind – und auch, wie häufig staatliche zugleich Organe die rechte Vernetzung mindestens billigend hinnehmen, wenn nicht aktiv unterstützen. Die drei Jahre staatlicher Aufklärungsarbeit nach dem Anschlag in Hanau sind ein weiteres Beispiel dafür, dass die Staatsanwaltschaft, Polizei und Verfassungsschutz keine Verbündeten im Kampf gegen den rechten Terror sind.
„Hanau war kein Einzelfall – Widerstand, überall!“
Die Initiative 19. Februar, die aus dem unnmittelbaren Umfeld der Angehörigen entstand, hat vier zentrale Forderungen aufgestellt: „Erinnern, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“.
Manchmal bleibt unklar, an wen sich diese Forderungen richten. Viele werden die Forderungen mit Transparenten auf die Straßen tragen und sie in zahlreichen Redebeiträgen laut werden lassen. Unterschiedliche Teilnehmer:innen – heute werden es wieder tausende sein – werden dabei unterschiedliche Adressat:innen und konkrete Konsequenzen im Kopf haben. Manche Forderungen werden wohl mit breitem Konsens geteilt, etwa diejenige, Polizist:innen in rechten Chatgruppen vom Dienst auszuschließen. Die staatlichen Institutionen selbst als Teil des Problems zu begreifen, ist ebenfalls weitgehend anerkannt, aber schon strittiger. Hier gilt es deutlich zu unterstreichen, dass ein Kampf gegen den Faschismus nicht vom Kampf gegen die faschistischen Personennetzwerke, die in die Sicherheitsbehörden hineinreichen, zu trennen ist.
Zudem können wir die Forderung nach Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen an uns selbst richten: Eine Gedenkkultur zu schaffen, die den Opfern rechter Gewalt gerecht wird, ist unsere Aufgabe. Wenn, oder gerade, weil staatliche Strukturen die Aufklärung nicht übernehmen, müssen wir uns zu rechtem Terror in Deutschland informieren, recherchieren, Zusammenhänge aufzeigen, Ursachen benennen.
Den Mythos Einzeltäter zu entlarven, ist vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben, derer wir uns annehmen können. Und so ziehen wir Konsequenzen nicht nur aus dem Anschlag in Hanau, sondern auch aus den Jahren danach: Ohne eine starke antifaschistische Organisierung und antirassistische Solidarität, die Faschismus und staatliche Behörden gleichermaßen ins Auge fassen, bleiben die Dinge, wie sie sind.