Im Parlament und in den Medien wird noch immer über die Reaktivierung der Wehrpflicht diskutiert. Auch wenn die Staatsspitze die Debatte beenden will, so soll die Option doch weiterhin auf dem Tisch bleiben. – Ein Kommentar von Gillian Norman
In den Tagen nach der Entscheidung über die Panzer-Lieferung an die Ukraine hat die Politik-Debatte über die Reaktivierung der Wehrpflicht wieder an Fahrt aufgenommen. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte dazu Ende Januar gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Wenn Sie mich als Zivilisten fragen, als Staatsbürger, als Politiker, würde ich sagen: Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen.“ Zugleich erklärte er, dies lasse sich aber nicht einfach so zurückholen.
Ähnlich argumentiert Bundeskanzler Scholz. Die Entscheidung zur Aussetzung im Jahr 2011 habe er seinerzeit „bedauert“, so der Kanzler in einem Interview mit der Oberhessischen Presse am Freitag. „Das ist aber fast zwölf Jahre her und die Bundeswehr ist mittlerweile komplett anders aufgestellt.“
Also doch keine Wehrpflicht? Auch wenn sich Verteidigungsminister und Kanzler nicht für eine sofortige Reaktivierung aussprechen, so wird doch deutlich, dass es sich nur um eine Momentaufnahme handelt, während inhaltlich die eigentliche „Notwendigkeit“ einer Wehrpflicht rehabilitiert wird.
Der Hauptfeind steht laut Regierung im Osten
Vor 2 Jahren stellten sich noch alle Parteien im Bundestag gegen den Antrag der AfD, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Heute jedoch übernimmt Pistorius die Analysen und Schlüsse der AfD, dass es eine „Entfremdung zwischen Teilen der Gesellschaft und dem Staat“ gäbe. Das klingt nach Vorbereitungsmaßnahmen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in der Zukunft.
Damit bewegt sich auch die SPD auf der aggressiven Schiene einer Militarisierung. In den sozialen Netzwerken gab es von Jugendgruppen bereits große Kritik an deren Plänen zu Aufrüstung und Militarisierung.
Keinen Cent, keinen Mensch der #Bundeswehr!
Gegen die #Wehrpflicht– und #Aufrüstung|spläne der #SPD-geführten Regierung! pic.twitter.com/lEAZSywj9F— Internationale Jugend (@Interjugend) January 18, 2023
In der FDP gibt es die ähnliche momentane Zurückhaltung bei gleichzeitigem Winken mit der Wehrpflicht. So erklärte die Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Grundsätzlich gilt das Ende der Dienstpflicht ausschließlich in Friedenszeiten. Im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie wieder aktiviert werden“. Das ist aber bereits jetzt so, bisher ist die Wehrpflicht nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt. Doch laut Strack-Zimmermann scheint es bitter nötig zu sein, die Friedenszeiten zu überwinden. Im vergangenen Sommer sagte sie, dass die Bundeswehr jetzt ein klares Feindbild wie China oder Russland bräuchte, um agieren zu können.
Die Forderung von Strack-Zimmermann, auch Frauen für den Wehrdienst zu verpflichten, dürfte dann auch gut mit der „feministischen Außenpolitik“ von Annalena Baerbock zusammenpassen. Ähnliches hatte SPD-Politikerin und Wehrbeauftragte Eva Högl bereits im August 2022 gefordert.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner zeigte sich dagegen eher skeptisch gegenüber dem Vorschlag und betonte, dass es wichtig sei, „die Bundeswehr als hochprofessionelle Armee zu stärken“ und junge Menschen möglichst früh ins Berufsleben zu schicken. Auch der stellvertretende Vorsitzende Johannes Vogel sagte, dass eine 12-monatige Wehrpflicht viel zu kurz sei, um die Wehrdienstleistenden an die moderne Technik der Bundeswehr heranzuführen.
Die Diskussion um den Sozialen Pflichtdienst als Teil der deutschen Kriegsvorbereitung
Soziales Pflichtjahr als Wehrdienst durch die Hintertür
Aber da gibt es ja auch noch den Vorschlag des verpflichtenden „Sozialen Jahres“. Dieser wurde bereits letztes Jahr von Bundespräsident Steinmeier und CDU-Politiker Merz ins Spiel gebracht. Vor zwei Tagen brachte der CDU-Politiker Jens Spahn die Forderung erneut ins Gespräch. Das würde für junge Menschen ganz klar bedeuten, ein ganzes Jahr in Vollzeit zu arbeiten – für ein Taschengeld von wenigen hundert Euro im Monat. Damit sollen Jugendliche in sozialen Einrichtungen wie Seniorenheimen, Obdachlosenunterkünften oder bei der Betreuung behinderter Menschen helfen und damit das kaputte System am Laufen halten – oder eben stattdessen ein Jahr zur Bundeswehr gehen! Das wäre die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht durch die Hintertür.
Auch heute werden bereits viele Jugendliche dazu genötigt, ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) zu absolvieren, um ihren gewünschten Ausbildungs- oder Studienplatz zu bekommen. Das FSJ bringt angehenden Studierenden Erleichterungen beim Numerus Clausus. Und auch in vielen Ausbildungsberufen ist es eine notwendige Voraussetzung, um im Kampf um die wenigen Plätze zu gewinnen. Bei der Ausbildung zum:r Rettungssanitäter:in kommen in vielen Städten z.B. oft mehr als 20 Bewerber:innen auf einen Ausbildungsplatz.
Und für diejenigen, bei den selbst das nicht reicht, um ihre Berufsziele zu verwirklichen, hat die Bundeswehr bereits jetzt eine „attraktive“ Perspektive parat: Der Numerus Clausus kann bei Studiengängen wie Medizin durch die Verpflichtung bei der Bundeswehr umgangen werden. Dafür muss man sich allerdings dazu verpflichten, an Auslandseinätzen der Bundeswehr teilzunehmen und sich für 13-17 Jahre zu verpflichten. Im Falle einer aktiven Beteiligung der Bundeswehr bedeutet das also auch, im schlimmsten Fall an der Front sein Leben lassen zu müssen.
Das Soziale Pflichtjahr scheint sich als kapitalistische „Lösung“ für einige Probleme anzudeuten. Die nächste „Debatte“ würde dann wieder über diese Wahlpflicht-Mischung aus Wehrpflicht und/oder Ausbeutung in sozialen Berufen stattfinden.