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Freitag, April 19, 2024
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    Das „Selbstbestimmungsgesetz“ hat seinen Namen nicht verdient

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    Rechtliche Selbstbestimmung in Bezug auf das Geschlecht: Das verspricht die Ampelregierung mit ihrem neuen Gesetzesentwurf. Halten kann sie dieses Versprechen nicht. – Ein Kommentar von Ivan Barker

    Letzte Woche wurde der fertige Entwurf für das sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz“ vom Bundesjustiz- und -familienministerium vorgelegt. Es soll das bisherige „Transsexuellengesetz“ ersetzen, das die juristische Änderung des Namens und des Geschlechtseintrags regelt. Bislang mussten trans, inter und nicht-binäre Personen dafür einen langen, teuren Gerichtsprozess durchlaufen und psychologische Gutachten vorlegen.

    Das neue Gesetz verspricht einen leichteren Weg über das Standesamt. Mit dem Namen „Selbstbestimmungsgesetz“ soll der Eindruck erweckt werden, dass damit die geschlechtliche Selbstbestimmung verwirklicht werden könnte. Davon sollten wir uns aber nicht täuschen lassen, denn tatsächlich wird auch mit diesem Gesetz trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen ein enger Rahmen gesetzt, über den sie „bestimmen“ können.

    Deutschland als kapitalistisches Land benötigt Arbeiter:innen, die sich ihrer Ausbeutung und Unterdrückung unterwerfen. Ein Mittel dafür ist das eng mit dem Kapitalismus verbundene Patriarchat, die Herrschaft der Männer über alle anderen Geschlechter. Die strikte Aufteilung aller Menschen anhand von bestimmten Merkmalen in die Kategorien „Mann“ und „Frau“ ist davon ein wichtiger Bestandteil. Sie soll dafür sorgen, dass Frauen unbezahlte Arbeit im Haushalt leisten, diese Tatsache aber nicht als besondere Ausbeutung begreifen, sondern als „natürliche Aufgabe“ aufgrund ihres Geschlechts.

    Männer dienen hingegen als Unterdrücker dafür, Frauen immer wieder an diesen Platz zu verweisen. Für Menschen, deren bei der Geburt festgestelltem Geschlecht nicht ihrem tatsächlichen Geschlecht entspricht, gibt es in dieser Ordnung keinen Platz. Die Reaktion auf ihre Existenz besteht aufgrund dessen in einer besonderen Unterdrückung, die sie an den Rand der Gesellschaft drängen soll.

    Erst durch jahrzehntelange Kämpfe gegen trans- und interfeindliche Gesetze konnten dem Staat der Kapitalist:innen einige Reformen abgerungen werden. Diese dienen einerseits der Integration einer kämpferischen Bewegung, andererseits als Aushängeschild für ein angeblich besonders „tolerantes“ System. Wo die Toleranz für trans, inter und nicht-binäre Menschen aufhört, zeigt sich jedoch sehr schnell auch im Gesetzentwurf. So zum Beispiel, wenn es darum geht, die Interessen der deutschen Kapitalist:innen im Krieg zu vertreten: Laut einer Sonderregelung wird eine Änderung des Geschlechtseintrags ungültig, wird der „Verteidigungsfall“ ausgerufen. Wer zur Geburt als Mann eingetragen wurde, soll der Einberufung nicht „entgehen“ können.

    Auch wurden in der Diskussion immer wieder vermeintliche Ängste vor Übergriffen durch transgeschlechtliche Frauen geschürt, die durch eine vereinfachte Änderung des Geschlechtseintrags Zugang zu Orten für Frauen erhielten. Ihnen wurde damit unterstellt, prinzipiell eine Bedrohung für andere Frauen darstellen, obwohl sie im Gegenteil in erhöhtem Maße Opfer von Gewalt werden als zu Täterinnen. Ebenfalls wird unter den Tisch gekehrt, dass männliche Täter heute schon jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland ermorden können, ganz Vornamens- und Personenstandsänderung. Trotzdem hat die Debatte dazu geführt, dass es zusätzliche Sonderregelungen gibt und Eigentümer:innen von Einrichtungen nach Hausrecht entscheiden können, trans, inter und nicht-binäre Menschen zu diskriminieren.

    Auf rechtlicher Ebene handelt es sich also um einen begrenzten Fortschritt, wobei selbst dieser hart erkämpft werden musste. Zu geschlechtlicher Selbstbestimmung gehört aber noch weit mehr, als nur die Änderung des Namens und des Geschlechtseintrags. Fortschritte, die mit dem Zugang zu medizinischer Versorgung zu tun haben, oder mit dem Kampf gegen transfeindliche Gewalt, kündigte die Regierung bisher nicht an. Darauf können wir als Arbeiter:innen unterdrückter Geschlechter auch nicht warten. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir gemeinsam dafür kämpfen müssen und darüber hinaus eingeführte Reformen beständig verteidigen müssen. Was einmal aktualisiert wurde, kann im Kapitalismus auch schnell wieder zurückgenommen werden.

    • Perspektive-Autor seit 2019 sowie Redakteur der Printausgabe. Auszubildender in der Metallindustrie in Berlin und Hobbykünstler.

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