Deutschland feierte sich mit der Austragung der „Special Olympics“ für geistig behinderte Sportler:innen als Vorzeige-Inklusionsland. Doch abseits des imposanten Events müssen geistig behinderte Menschen um Würde und gegen Ausbeutung kämpfen. – Mohannad Lamees berichtet.
Am Sonntag endeten in Berlin die Special Olympics, mit dem das weltweit größte Sport-Event für geistig behinderte und mehrfach behinderte Sportler:innen in der vergangenen Woche viel Aufmerksamkeit bekommen hatte. In Deutschland, so schien es während der Spiele, wird einiges für geistig behinderte Menschen getan.
Zu den Sponsoren der Spiele gehören beispielsweise Unternehmen wie Coca-Cola, REWE, Toyota oder die Telekom, die Inklusion als eine „Herzensangelegenheit“ oder wichtigen Bestandteil ihrer „Unternehmenskultur“ bezeichneten.
Neben kapitalistischen Konzernen nutzten auch Politiker:innen die Gelegenheit, um sich als Unterstützer:innen von Vielfalt und Inklusion zu präsentieren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trat seit Februar gar als Schirmherr der Spiele auf. Die Special Olympics sollen, so die Hoffnung der Veranstalter:innen, nachhaltig auf die Politik in ganz Deutschland ausstrahlen und zur Gleichberechtigung und Teilhabe von geistig behinderten Menschen in unserer Gesellschaft auch jenseits des Sports beitragen.
Bei der Eröffnungszeremonie der Spiele im Berliner Olympiastadion begrüßte Steinmeier schließlich die Athlet:innen. In seiner Rede spann der Bundespräsident den Bogen vom Sportlichen zum Politischen und erklärte, dass die Gesellschaft insgesamt reicher werde, wenn sie Inklusion lebe. Doch wie geht es geistig behinderten Menschen in Deutschland eigentlich abseits der Special Olympics?
Geistig Behinderte sind billige Arbeitskräfte
Von der bei den Special Olympics versprühten Aufbruchstimmung kommt in den Werkstätten für behinderte Menschen wenig an. Vielmehr herrscht trister Arbeitsalltag. P.M. (Name ist der Redaktion bekannt) ist 23 Jahre alt und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen im Bereich Montage und Verpackung. Dort kontrolliert er für große Unternehmen, wie zum Beispiel die Bosch AG, Ware auf Mängel. P.M. berichtet: „Ich arbeite 8 Stunden am Tag und bekomme am Ende des Monats trotzdem nur 50€ raus. Das hat mit Mindestlohn nichts zu tun“.
Tatsächlich gelten Arbeiter:innen in den Werkstätten laut Arbeitsrecht nicht als Arbeitnehmer:innen, sondern als „arbeitnehmerähnliche Beschäftige“. Die Werkstätten sollen die Arbeiter:innen eigentlich wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern und gelten als Rehabilitationsmaßnahme – viele Arbeiter:innen bleiben aber dauerhaft in den Einrichtungen.
In der Praxis bedeutet das nicht nur, dass die beschäftigten in den Werkstätten nicht nach Tarif entlohnt werden, sondern auch, dass ihnen rechtlich gesehen keine Mittel zum Arbeitskampf zur Verfügung stehen. P.M stört sich daran: „Ich habe mich mal informiert, was wir tun könnten. Aber wir dürfen zum Beispiel nicht streiken. Das macht mich sehr unzufrieden. Wir brauchen mehr Bezahlung und weniger Arbeit“.
Geistig Behinderte sind im Kapitalismus Billiglohnkräfte. Steinmeiers Aussagen während der Eröffnung der Special Olympics bekommen vor diesem Hintergrund eine andere Bedeutungsebene: Nicht die Gesellschaft insgesamt, sondern diejenigen, die ohnehin von Ausbeutung profitieren, werden durch Inklusion „reicher“: Für viele einfache Aufgaben sind geistig Behinderte qua Gesetz deutlich günstigere Arbeitskräfte als andere Arbeiter:innen, es bleibt für die Konzerne also mehr übrig.
Auch in der Betreuung regiert der Kapitalismus
Auch diejenigen geistig Behinderten, die nicht direkt durch die Kapitalisten ausgebeutet werden, leben fernab des Special Olympics-Glanzes. L. (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) ist Helfer in einer Einrichtung für Menschen mit starken geistigen Behinderungen. Viele der Menschen, die L. betreut, können nicht oder nur sehr eingeschränkt sprechen, alle haben komplizierte und individuelle Einschränkungen. Diese Menschen nehmen an einem Enthospitalisierungsprogramm teil. Dabei werden sie aus Krankenhäusern, in denen sie falsch aufgehoben waren, wieder in ein Leben mit mehr Eigenständigkeit, zum Beispiel in eigenen WG, eingegliedert. In derartigen Einrichtungen lässt sich für alle, die es sich leisten können, mehr individuelle Betreuung herstellen als in den Krankenhäusern. Trotzdem stellt L. fest: „Wir können den Menschen trotzdem nicht das geben, was sie eigentlich brauchen und möchten“.
Um einen angemessenen Umgang mit den geistig schwer Behinderten leisten zu können, bräuchten die Mitarbeiter:innen in der Einrichtung fachliche Qualifikation aus so verschiedenen Bereichen wie Psychologie, Logopädie und Sonderpädagogik, ist sich L. sicher. Stattdessen scheitere es in der Praxis oft schon daran, überhaupt Zeit und Energie für mehr als das absolut Notwendige zu finden: „Es gibt zum Beispiel ein Tablet, mit dem die Bewohner über Augenbewegungen kommunizieren können – doch das wird kaum genutzt, weil es extra Aufwand bedeutet“, berichtet der Helfer.
So gestaltet sich die Betreuung auch oft auf eine Art und Weise, die L. als „autoritär“ empfindet – die Beschäftigten mit Handicap müssen von den Betreuer:innen möglichst schnell und effizient innerhalb der eng getakteten Zeitpläne abgefertigt werden. „Es gibt im Kapitalismus eigentlich kein echtes Interesse an den Leben dieser Menschen“, sagt L. und fügt an: „Schließlich sind das keine Menschen, bei denen es sich lohnt, ihre Arbeitskraft auszubeuten“.
So können Konzerne und Politiker:innen noch so viel betonen, wie wichtig ihnen Inklusion, Vielfalt und die Würde aller Menschen sind. Ein Blick auf die tatsächliche Lage zeigt schnell das Gegenteil: Über allem anderen stehen in der heutigen Gesellschaft Profit und kalte Verwertungslogik.