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Samstag, Juli 27, 2024
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    Libyen: Haftar-Miliz foltert Flüchtlinge mit Unterstützung der EU

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    Nach Recherchen des SPIEGEL unterstützen Frontex und andere europäische Behörden libysche Milizen beim Verschleppen von Geflüchteten. In dem von Bürgerkrieg gezeichneten Land im Norden Afrikas sind Folter und Menschenhandel an der Tagesordnung. Die EU schließt ungeachtet dessen weitere Deals ab, um die Abschottung Europas voranzutreiben.

    Ein überfülltes Boot mit Geflüchteten ist auf dem Mittelmeer in Richtung Italien unterwegs. Eine Drohne der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex filmt diesen Vorfall und schickt einen Notruf an Schiffe und Behörden. Handelsschiffe in der Nähe eilen nicht zur Hilfe. Auch die italienischen und maltesischen Behörden reagieren nicht.

    Stunden später werden die Flüchtenden im maltesischen Gewässer von einem Boot mit libyscher Fahne verschleppt. Es gehört zur Brigade Tareq Bin Zeyad (TBZ), die der libyschen Haftar-Miliz untersteht. Einer der Verschleppten berichtet im Nachhinein von brutaler Folter: „Sie schlugen uns, bis unsere Körper von den Schlägen schwarz wurden.“

    All das zeigt eine Recherche, die der SPIEGEL am 11. Dezember veröffentlichte. Es wird von drei konkreten Fällen berichtet, in denen europäische Behörden Hilfe verweigert oder sogar aktiv mit der Haftar-Miliz zusammengearbeitet haben sollen.

    Bürgerkrieg in Libyen

    In Libyen herrscht seit 2011 Bürgerkrieg, der zurzeit nur durch einen Waffenstillstand begrenzt ist. Das Regime von Muammar al-Gaddafi war von islamisch-fundamentalistischen Aufständischen mit Unterstützung zahlreicher NATO-Staaten gestürzt worden. Unter anderem die USA, Großbritannien und Frankreich hatten durch Luftangriffe militärische Schützenhilfe geleistet.

    Seit mehreren Jahren kämpfen nun zwei verfeindete Gruppen um die Kontrolle über das Land. Den Westen des Landes kontrolliert die international anerkannte Regierung in Tripolis unter dem Geschäftsmann Abdul Hamid Dbeiba. Diese wird von verschiedenen bewaffneten Milizen unterstützt. Ihr steht die Regierung von Ex-Innenminister Fathi Baschaga gegenüber, die sich auf das Parlament im Osten des Landes stützt und mit dem Milizenführer Khalifa Haftar verbündet ist.

    Wenn es um Flüchtlingsboote im Mittelmeer geht, arbeiten die beiden Lager allerdings durchaus zusammen. Die Beamten der offiziell anerkannten Regierung leiten beispielsweise Koordinaten an die Haftar-Miliz weiter, so dass diese über die notwendigen Daten verfügt, um die Menschen auf den Booten verschleppen können.

    Die „Einheitsregierung“ in Tripolis wird bislang vor allem von der ehemaligen Kolonialmacht Italien und zusätzlich von der Türkei, Katar und zahlreichen westlichen Staaten (USA, EU) unterstützt, während das Haftar-Regime Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland hinter sich hat. In der Vergangenheit hatten aber auch Frankreich, die USA und das Vereinigte Königreich schon mit der Haftar zusammengearbeitet.

    Zusammenarbeit der EU mit Haftar

    Nach dem Schiffsunglück vor der griechischen Küste im Juni mit über 600 Toten hatte der SPIEGEL bereits über das Geschäftsmodell und die Verbindungen von Khalifa Haftar zur EU berichtet. In den letzten Jahren waren es allen voran Italien und Malta, die den Kontakt zu ihm pflegten.

    Ein anonymer maltesischer Beamter bestätigte jetzt gegenüber dem SPIEGEL sogar, dass die maltesischen Behörden direkt mit der Brigade TBZ kooperiert und Koordinaten von Schiffen übermittelt hätten. Um einen Deal auszuhandeln, gab es vor kurzem ein Treffen zwischen maltesischen Offiziellen und der Miliz in Bengasi, im Osten Libyens. Auch die italienische Regierungschefin Meloni traf sich dieses Jahr mit Khalifa Haftar, um einen Deal mit ihm auszuhandeln. Im Gegenzug habe der Innenminister Finanzhilfen und Trainingseinheiten für die TBZ versprochen.

    Für Haftars Milizen ist das Geschäft mit Geflüchteten auf dem Mittelmeer besonders lukrativ, denn sie verdienen mit ihrem Vorgehen doppelt: Auf der einen Seite machen sie durch die Kontrolle von Häfen Geschäfte mit den Schleppern, auf der anderen Seite verdienen sie durch den Handel mit Menschen, die sie auf dem Mittelmeer mit Hilfe der EU gefangen nehmen. Hinzu kommen die Deals über finanzielle Hilfen durch EU-Staaten.

    Frontex sieht sich nicht in der Verantwortung

    Aber auch die Zusammenarbeit der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex mit der offiziellen „libyschen Küstenwache“ ist bereits seit Jahren gängige Praxis. Die Miliz der vom Westen anerkannten libyschen Regierung ist in Wirklichkeit kaum mehr als eine Ansammlung mordender Söldnertruppen.

    Immer wieder wird von den menschenunwürdigen Bedingungen in Libyen berichtet. Milizen schießen auf die Boote der Flüchtenden, schleppen sie zurück in die Folterkammern des libyschen Staates oder verkaufen sie weiter an Menschenhändler. Auch Zwangsarbeit und Vergewaltigungen sind keine Seltenheit. Die EU unterstützt und finanziert sie dabei seit Jahren.

    Frontex selbst sieht sich allerdings nicht in der Verantwortung: Die Grenzschutzagentur betont, dass sie in diesen Fällen nicht direkt mit der TBZ kommuniziert habe. Sie hätte aktiv Rettungszentren in Italien, Malta und Westlibyen angerufen, aber keine Antwort bekommen. Für die Koordination der Rettungseinsätze sei man grundsätzlich nicht zuständig, so Frontex auf die Anfrage des SPIEGEL.

    Da Frontex jedoch von der Folter in Libyen wisse, hätte die Grenzschutzbehörde „nach dem Notruf sicherstellen müssen, dass jemand anderes die Rettung übernimmt – zum Beispiel eines der Handelsschiffe, die ohnehin viel schneller vor Ort gewesen wären“, hält die Völkerrechtlerin Nora Markard dagegen.

    Flüchtlingsdeals mit Türkei, Tunesien, Nigeria u.a.

    Doch nicht nur mit Libyen pflegen die EU und Deutschland einen engen Kontakt, um die Flüchtlingsströme mit Gewalt zu begrenzen. Im Sommer hatte EU-Parlamentspräsidentin Ursula von der Leyen bereits einen 900 Millionen Euro-Deal mit Tunesien für das Zurückhalten von Migrant:innen angekündigt.

    Für die sogenannte „Rückführungsoffensive“ der Bundesregierung reisten auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) vor kurzem in mehrere afrikanische Staaten. Scholz flog nach Nigeria und Ghana, Faeser nach Marokko. Scholz verhandelte zwar auch über neue Gas- und Öl-Deals, aber warb gleichzeitig für Abkommen, um Geflüchtete in diese Länder abschieben zu können. Dazu sollen unter anderem „Migrationszentren“ gebaut werden, um einerseits Abschiebungen zu erleichtern und gleichzeitig Auswahlverfahren für nützliche Fachkräfte zu ermöglichen.

    Das wohl bekannteste Flüchtlingsabkommen hatte die EU bereits im Jahr 2016 – unter deutscher Führung – mit der Türkei geschlossen. Im Gegenzug für mehrere Milliarden Euro und weitere politische Zusagen verschloss die Türkei gewaltsam die Fluchtrouten über das östliche Mittelmeer und den Bosporus. Millionen von Geflüchteten leben dort seitdem in extremer Armut, oft auf der Straße.

    Ähnlich sieht es auch in den südlichen europäischen Ländern wie Italien und Griechenland aus: Diese dienen Deutschland gewissermaßen als “Pufferzone”: Mithilfe des Dublin-Abkommens werden jährlich tausende Menschen von Deutschland in diese Staaten abgeschoben. Auch dort leben die Geflüchteten unter erbärmlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern oder ebenfalls auf der Straße.

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