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Mittwoch, Mai 1, 2024
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    Niger: Lage scheint sich zu beruhigen, doch die Zukunft bleibt ungewiss

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    In den vergangenen Jahren putschten in der Sahelzone Militärs gegen pro-westliche Regierungen – zuletzt im Juli 2023 in Niger. Französische Truppen wurden nun abgezogen, Militärbasen werden verlassen und Mitarbeiter:innen in den Botschaften werden zurückbeordert. Die akute Gefahr eines regionalen Kriegs scheint vorerst gebannt. Inwiefern die aktuelle Politik zu einer Verbesserung der Lebenssituation führt, bleibt abzuwarten. – Ein Kommentar von Nick Svinets.

    Die jüngste Geschichte des westlichen Sahel ist geprägt durch französischen Neokolonialismus, Armut, Terror und wirtschaftliche Unterentwicklung. Der französische Neokolonialismus in Niger tritt in verschiedenster Gestalt auf: So wurde Niger 1961 ein „Schutzabkommen“ diktiert, das zwar „Schutz“ durch französische Streitkräfte bietet, aber im Gegenzug Ressourcenzugang einfordert.

    In Niger befindet sich eines der weltweit größten Uran-Vorkommen, das noch heute essenziell für die Stromerzeugung in französischen Atomkraftwerken ist. Die französische Energiesicherheit wäre ohne die menschenrechtsverletzende Ausbeutung nigrischer Arbeiter:innen nicht möglich.

    Eine andere Form der neokolonialen Einflussnahme Frankreichs ist die Währung: der “CFA-Franc“. Dieses Währungssystem ist an den Euro geknüpft und führt zur wirtschaftlichen Unterentwicklung des Landes.

    Militärpräsenz und Migrationskontrolle

    Mit den französischen Operationen Serval und Barkhane oder der UN-Friedensmission MINUSMA wird zudem westliche militärische Präsenz in der Region gezeigt – vorgeblich im „Kampf gegen den Terrorismus“. Die Militärpräsenz dient jedoch auch der Migrationskontrolle und ist demnach auch ein Hilfsmittel der EU im Kampf gegen Migration.

    2015 wurde auf Druck der EU in Niger das Law 2015-36 verabschiedet, ein Gesetz, das Migration im Norden kriminalisiert – speziell um den Knotenpunkt für Schleuser, die Wüstenstadt Agadez. Das Gesetz führt nachweislich dazu, dass Flüchtende extrem gefährliche Ausweichrouten durch die Sahara nutzen, da das nigrische und französische Militär in den Städten Richtung Libyen und Algerien stationiert sind. Das führt dazu, dass Menschen massenhaft in der Sahara verdursten oder anderweitig ums Leben kommen.

    Unzufriedenheit und Protest der nigrischen Bevölkerung

    Die korrupte Politik nigrischer Politiker:innen und Kapitalist:innen, das Einknicken vor dem Westen, die militärische Präsenz Frankreichs, das Sterben von Flüchtenden und die Kriminalisierung des nigrischen Transportsektors sind nur ein Teil der Auswirkungen der neokolonialen Herrschaft.

    Durch eben diese Faktoren bildet sich in der nigrischen Bevölkerung Widerstand gegen die französische Neokolonialmacht und den westlichen Einfluss. Ende Juli 2023 kam es dann zum Militärputsch und der Absetzung des vom Westen unterstützten Präsidenten Bazoum. Der Putsch wurde auch durch Proteste von großen Teilen der Gesellschaft unterstützt. In einer Umfrage im Auftrag des Londoner Economist hatten im August 79% der befragten Nigr:innen erklärt, die Militärjunta zu unterstützen.

    Die neue Regierung unter Ali Mahamane Lamine Zeine (Premierminister) und der Präsident des Nationalen Rates zum Schutz des Vaterlands, Abdourahamane Tiani, kündigten im August außerdem an, dass die Übergangsregierung drei Jahre lang eine Stabilität aufbauen solle, um dann neue Wahlen abzuhalten.

    Frankreich zieht Truppen ab

    Ende 2023 begann Frankreich dann damit, das eigene Militär aus Niger abzuziehen. In den Jahren zuvor wurde Frankreich bereits dazu gedrängt, sich aus Mali und Burkina Faso zurückzuziehen. Die letzten 1.500 verbliebenen Truppen haben nun am 22. Dezember das Land verlassen. “Das heutige Datum (…) markiert das Ende des Abzugsprozesses der französischen Streitkräfte in der Sahelzone”, sagte der nigrische Armeeleutnant Salim Ibrahim bei der Zeremonie in Niamey, die das Ende der französischen Militärpräsenz markierte.

    Das Law 2015-36, das den Transport von Migrant:innen im Norden des Landes kriminalisierte und durch den Druck Frankreichs und der EU verabschiedet wurde, ist seit dem 25. November nicht mehr in Kraft. Die Aufhebung sorgt bei den NGO und der Zivilbevölkerung für Erleichterung. Auch dafür, dass Arbeiter:innen im Transportsektor keine Gefängnisstrafen und Bußgeldzahlungen erwarten müssen, wenn sie ihrem Job nachgehen. Ebenso die Routen, an denen normalerweise französische Soldat:innen patrouillierten, sind wieder nutzbar und eine ungefährlichere Alternative zu den tödlichen Routen abseits der Dörfer und Städte Richtung Norden.

    Nach dem Abzug Frankreichs aus Niger verbleiben dennoch hunderte von US-Militärs sowie eine Reihe italienischer und deutscher Truppen im Land. Außerdem übt Frankreich weiter Druck auf die ECOWAS (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) aus. Die ECOWAS drohte jetzt der nigrischen Regierung mit einer militärischen Intervention, um das ehemalige Staatsoberhaupt wieder einzusetzen.

    Niger: Kriegsvorbereitungen in Nordafrika gehen weiter

    Die Regierungen Burkina Fasos und Malis solidarisierten sich mit Nigers Militärregierung nur wenige Wochen nach dem Putsch und entgegneten der Kriegsdrohung der ECOWAS mit einem Militärpakt aller drei Sahelstaaten. Diese suchten gleichzeitig nach Gesprächen mit Russland, um gemeinsame Sicherheitsabkommen zu schließen. In Burkina Faso und Mali waren in der Vergangenheit bereits Truppen der russischen Wagner-Gruppe im Einsatz und auch die nigrische Militärjunta bat Wagner-Truppen um Unterstützung.

    Ungewisse Zukunft

    Die Zukunft ist schwer abzusehen, dennoch kann festgehalten werden, dass die nigrische Regierung bisher eine großangelegte Militäroperation des Westens abgewendet und eine intensive Kooperation zur wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und sozialen Zusammenarbeit mit Burkina Faso und Mali hergestellt hat. Inwieweit sich die aktuelle Politik positiv auf die Lebensumstände der nigrischen Arbeiter:innen und die grassierende Armut im Land auswirkt, bleibt abzuwarten.

    In Mali hatten nach dem Putsch die Kämpfe zwischen der Armee und bewaffneten Gruppen zugenommen, wodurch auch islamistische Anschläge zunahmen. Auch in Niger kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu solchen Attacken. Mitte Januar waren zuletzt drei Zivilist:innen bei einem Angriff an einem Polizei-Checkpoint getötet worden.

    Die All-African People’s Revolutionary Party (AAPRP) betitelte die Putsche als “Revolution im Sahel” und betont, dass die Auflehnung gegen die Neokolonialmacht Frankreich Tradition in Westafrika habe und schon unter Thomas Sankara in Burkina Faso oder Kwame Nkrumah in Ghana stattfand. Doch das Risiko bei der Etablierung eines sozialistischen Staates oder einer sozialistischen Partei als Regierungsmacht ist enorm. Das antikommunistische Vorgehen der ehemaligen Kolonialmächte und des US-Staatsapparats hatte bereits Revolutionär:innen wie Sankara und Nkrumah das Leben bzw. ihre Gesundheit gekostet.

    Daneben stellen aber auch konservative Kräfte in nationalen Befreiungskämpfen immer wieder eine Gefahr für fortschrittliche und revolutionäre Strukturen dar. Die Repression gegen Kommunist:innen verschärfte sich in der Vergangenheit oft, nachdem sich Nationen gerade von kolonialer Besatzung befreien konnten. So ging es auch bei der “Islamischen Revolution” 1979 im Iran den Kommunist:innen an den Kragen, nachdem der Schah gestürzt worden war.

    • Perspektive-Autor seit 2024 und Politikwissenschaftsstudent mit Fokus auf Westasien & Sahelzone, Migration, Antirassismus, Antimilitarismus und internationale Klassenkämpfe.

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