`
Sonntag, April 28, 2024
More

    Haiti: Das ärmste Land Amerikas in der Krise

    Teilen

    Das diplomatische Personal der meisten EU-Staaten und auch aus Deutschland hat das Land bereits verlassen: In Haiti wird in diesen Tagen gewaltsam um die Vorherrschaft im Karibikstaat gekämpft. Im Fokus steht dabei der Konflikt zwischen Banden und den Resten der Regierung. Doch die eigentliche Ursache für die Situation besteht in der neokolonialen Unterdrückung des Landes. – Ein Kommentar von Paul Gerber

    Der deutsche Botschafter in Haiti ist am Sonntag „aufgrund der sehr angespannten Sicherheitslage in Haiti gemeinsam mit Entsandten der EU-Delegation in die Dominikanische Republik ausgereist“, wie das Auswärtige Amt in Berlin kundtat.

    Das unverwechselbare Beamtendeutsch wird dabei der Realität in Haiti kaum gerecht. Denn im Land entfaltet sich ein bewaffneter Konflikt zwischen einer Allianz aus zuvor rivalisierenden Banden und den Überresten eines zerfallenden Staats. Die Versorgungslage der Bevölkerung ist unterdessen offenbar zunehmend kritisch und das Betreten der Straßen in größeren Teilen der Hauptstadt Port-au-Prince überaus riskant.

    Der zunehmende Zerfall der staatlichen Institutionen ist dabei schon seit Jahren in Gang. Schrittweise haben Gangs und andere bewaffnete Gruppierungen in den letzten Jahren immer größere Teile des Landes, vor allem der Hauptstadt mit mehr als drei Millionen Einwohner:innen unter ihre Kontrolle gebracht.

    In den letzten Wochen ist dieser Prozess noch enorm beschleunigt worden. Am 29. Februar rief mit Jimmy Chérizier einer der Bandenführer eine „Revolution“ gegen die formell amtierende Regierung um Ariel Henry aus. Er teilte mit, dass die „bewaffneten Gruppen“ des Landes so geeint wie nie hinter diesem Ziel stünden.

    Ausgenutzt haben die selbsternannten „Revolutionäre“ damit eine Situation, in welcher der amtierende Präsident das Land für eine Reise nach Kenia verlassen hatte. Das eigentliche Ziel seiner Reise war, mit einer offiziellen schriftlichen Erklärung 1.000 Polizisten aus dem afrikanischen Land nach Haiti einzuladen, die dort nach dem Willen der kenianischen und US-amerikanischen Regierung wieder für Ordnung sorgen sollten. Das kenianische Verfassungsgericht hatte ihre Entsendung zuvor blockiert, solange nicht zweifelsfrei geklärt sei, dass dieser Einsatz vom haitianischen Staat gewünscht wäre.

    Ob es nun überhaupt zu diesem Einsatz kommen wird, dürfte mehr als fraglich sein: schließlich kann Henry scheinbar nicht in das Land zurückkehren und auch im Nachbarland, der Dominikanischen Republik, ist er offenbar unerwünscht. Die bewaffneten Aufständischen haben unterdessen die Kräfteverhältnisse massiv weiter zu ihren Gunsten verschoben. Sie griffen in den letzten Tagen Polizeistationen und vor allem zwei Gefängnisse an, aus denen sie insgesamt über 4.000 Gefangene befreiten.

    Dabei haben die sogenannten „Gangs“ in den letzten Jahren ein widersprüchliches Verhältnis zum haitianischen Staat bewiesen. Das Land gehört schon seit Jahrzehnten zu den ärmsten der Welt und dementsprechend entstehen immer wieder Hungerrevolten und Proteste.

    Jimmy Chérizier, der sich nun als Anführer einer Revolution inszeniert, war bis 2018 selbst Polizist im Dienste des Staates, bevor er zum Bandenführer avancierte. Seine Ziele setzt er offenbar in beiden Rollen mit äußerster Gewalt durch. Er wird für mehrere Massaker verantwortlich gemacht, bei denen hauptsächlich Zivilist:innen starben.

    Heute führt er eine links-populistische Rhetorik im Mund und spricht davon, das Land aus den Klauen der korrupten Elite befreien zu wollen, um ein „anderes Haiti, in dem alle Arbeit haben“, ebenso wie Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung, zu erkämpfen.

    Nicht nur die zweifelhafte Vergangenheit Chériziers als Bluthund der Regierung lässt es fragwürdig erscheinen, ob das Wirklichkeit wird. Es scheint auch keinerlei politisches Programm zu geben, mit dem er und seine Mitstreiter das Land aus der Armut und der tiefen Abhängigkeit von den USA, der Ex-Kolonialmacht Frankreich und anderer Großmächte führen könnten.

    Der berechtigte Hass der Bevölkerung auf diese Staaten, insbesondere auf die USA spielt den Aufständischen momentan aber trotzdem in die Hände. Ebenso wie die Tatsache, dass momentan offenbar hinter den Kulissen bereits Diskussionen darüber laufen, ob und wie eine militärische Intervention unter politischer Führung der USA in dem Land aussehen könnte. Der UN-Sicherheitsrat hatte schon im letzten Oktober eine solche Mission unter Führung von Kenia genehmigt.

    Drohende Militärintervention in Haiti?

    Um diese massive Ablehnung einer ausländischen Intervention besser verständlich zu machen, hilft ein kurzer Ausflug in die haitianische Geschichte.

    200 Jahre unabhängiges Haiti, 200 Jahre Unterdrückung und Armut

    Die Geschichte des Staats in der Karibik ist tief mit den Verbrechen der kapitalistischen Staaten verquickt, um den eigenen Einfluss zu wahren: von der Eroberung Amerikas über die Sklaverei bis hin zu den von den USA und anderen organisierten Staatsstreichen.

    Nach der Eroberung der Insel Hispaniola durch die Spanier, auf der sich heute sowohl Haiti als auch die Dominikanische Republik befinden, wurden nahezu alle indigenen Bewohner:innen der Insel als Sklav:innen verschleppt oder durch Kriege und Seuchen ausgerottet. An ihre Stelle traten schon ab dem 16. Jahrhundert Sklav:innen, die aus Afrika entführt worden waren.

    Ebenso im 16. Jahrhundert begann ihr Widerstand gegen ihre Peiniger, zum Teil als gemeinsame Kämpfe der Indigenen und der afrikanischen Sklav:innen.

    Ein Teil der spanischen Kolonie wurde an Frankreich abgetreten, und auch die Aufstände der Sklav:innen setzten sich fort. Sie gipfelten um die Jahrhundertwende zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert, also parallel zur US-amerikanischen Unabhängigkeit und zur demokratischen Revolution in Frankreich, in der sogenannten „haitianischen Revolution”.

    Diese stellte jedoch vielmehr einen von 1791 bis 1804 dauernden Prozess wechselnder Kriege und Bürgerkriege da. In deren Zuge setzte sich die aus Afrika stammende, schwarze Mehrheit der Bevölkerung nacheinander gegen diverse Einmischungs- und Übernahmeversuche durch: gegen die französischstämmigen Kolonisator:innen, gegen die sogenannten „Mulatten“ (Nachkommen von Sklav:innen und europäischen Sklavenhalter:innen, die auch gesellschaftlich zwischen den beiden Teilen der Bevölkerung standen), gegen die englischen und spanischen Interventionstruppen und schließlich gegen die von Napoleon Bonaparte entsandten Streitkräfte. So wurde am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit von „Saint Dominique”, wie der Staat damals hieß, proklamiert.

    Auch der unter spanischer Kontrolle stehende Ostteil der Insel wurde daraufhin erobert, und auch dort wurde die Sklaverei abgeschafft. International wurde die Unabhängigkeit des Inselstaats jedoch zunächst nicht anerkannt. Vor allem nicht von den ehemaligen Kolonialherren aus Frankreich.

    Diese setzen Reparationszahlungen von 150 Millionen Franc für die Enteignung der Sklavenhalter durch. Um diese begleichen zu können, musste sich das Land unter anderem bei französischen Banken verschulden, geriet also sofort wieder in eine veränderte Form der Abhängigkeit.

    Im 20. Jahrhundert nahmen zunehmend die USA die Rolle als dominante ausländische Macht in Haiti ein. Von 1915 bis 1934 hielten sie das Land militärisch besetzt, beherrschten aber auch danach noch auf indirekte Art seine Politik und seine Wirtschaft. Dieses Verhältnis besteht grundsätzlich auch heute noch.

    Die heutige bittere Armut im Land ist nach Meinung verschiedener Expert:innen unter anderem direkt darauf zurückzuführen, dass die vorhandene Landwirtschaft durch den massiven Import von Reis und Zucker aus den USA zerstört wurde und zunehmend durch den – auf Export orientierten – Aufbau von Mango- und Kaffeeplantagen ersetzt wurde.

    Die zwischenzeitlich starke kommunistische Bewegung auf Haiti wurde in einer mehr als dreißig Jahre dauernden Phase der Diktatur unter François Duvalier brutal verfolgt und dezimiert. Nach dem Ende dieser Diktatur wurde 1990 mit Jean-Bertrand Aristide ein fortschrittlicher, befreiungstheologischer Politiker ins Amt des Präsidenten gewählt. Er und seine Verbündeten spielen bis heute eine gewisse Rolle in der Politik des Landes.

    Jedoch wurden auch sie von Anfang an sowohl von der reichen Elite Haitis als auch von den USA und Frankreich bekämpft. So wurde Aristide 1991 und 2004 jeweils durch einen Putsch aus dem Amt entfernt, wovon beide nachweislich von den USA mitorganisiert beziehungsweise gefördert worden waren.

    Humanitäre Krise in Haiti: Massenproteste gegen imperialistische Militärintervention

    Gewisse Verbesserungen im Lebensstandard der Bevölkerung, welche die Regierungen von Aristide und seinen Verbündeten anstrebten, wurden somit im Keim erstickt. Unter anderem gelang es, die Zahl der weiterführenden Schulen im Land in mehreren durch Putsche und US-amerikanische Interventionen unterbrochenen Amtszeiten zu vervierfachen. Unter anderem die UNO selbst bescheinigte der Regierung von Aristide einen positiven Effekt auf die Menschenrechtslage in Haiti.

    Zusätzlich zu den andauernden Maßnahmen, um die Unterdrückung des Landes aufrechtzuerhalten, wurde das Land 2010 von einem der schwersten Erdbeben seiner Geschichte erfasst, bei dem unmittelbar über 300.000 Menschen starben, also etwa 3 Prozent der damaligen Bevölkerung. In der Folge entwickelte sich eine Cholera-Epidemie mit weiteren tausenden Toten.

    Die von den USA und Frankreich mithilfe eines UN-Mandats 2004 installierte UNO-Mission MINUSTAH brachte auch Kontingente von Blauhelmsoldaten ins Land. Durch die von Wikileaks veröffentlichten internen Dokumente der US-Diplomatie wurde belegt, dass die USA die Mission als zentrales Instrument einschätzen, um zu verhindern, dass politische Kräfte, die die „Marktwirtschaft“ einschränken könnten, wieder zu Einfluss im Land kommen könnten. Blauhelmsoldaten in Haiti wird außerdem die Tötung von regierungskritischen Demonstrant:innen und der organisierte sexualisierte Missbrauch von Frauen und Kindern durch insgesamt 104 Soldaten aus Sri Lanka zur Last gelegt.

    Ausblick

    Dieser Überblick über die Entwicklung und aktuelle Lage des Landes macht deutlich, aus welchen Gründen es Bandenführern wie Chérizier gelingt, Teile der Bevölkerung um sich zu scharen: es besteht durchaus eine beachtliche Basis für einen Machtkampf mit den Überresten des zerfallenden Staates.

    Eine Militärintervention anderer amerikanischer Staaten wird die Lage wohl kaum beruhigen, sondern möglicherweise ganz ins Gegenteil eskalieren. Vor allem aber wird sie die Abhängigkeit Haitis und die Armut der Bevölkerung nicht beseitigen.

    Die USA scheinen mittlerweile von ihrem Kurs abzurücken, den amtierenden Präsidenten Ariel Henry als Vertreter ihrer Interessen auf Teufel komm raus zu halten. Vielmehr haben ihre Sprecher:innen nun öffentlich verlautbaren lassen, man erwarte von Henry, dass er den Weg zu Neuwahlen freimache.

    Da aber die letzten 20 Jahre des Landes von politischen Morden, brutaler Repression und bei jeder einzelnen Wahl von Skandalen um Wahlfälschungen geprägt waren, ist auch davon kaum zu erwarten, dass sich die Lage schnell stabilisiert und eine neue Regierung ins Amt kommt, die wenigstens von einem Teil der Bevölkerung als legitim betrachtet wird.

    Wie es überhaupt gelingen soll, Wahlen unter den derzeitigen Bedingungen zu organisieren, steht ohnehin auf einem anderen Blatt.

    Obwohl es momentan kaum danach aussieht, dass eine politische und/oder militärische Macht in Haiti genug Einfluss entwickeln könnte, um echte Fortschritte für die Arbeiter:innenklasse des Landes zu erkämpfen, ist die Krise in Haiti doch ein deutlicher Ausdruck davon, dass die Herrschaft des US-Imperiums auch in der Karibik ins Wanken gerät.

    • Paul Gerber schreibt von Anfang bei Perspektive mit. Perspektive bietet ihm die Möglichkeit, dem Propagandafeuerwerk der herrschenden Klasse in diesem Land vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse aus etwas entgegenzusetzen. Lebensmotto: "Ich suche nicht nach Fehlern, sondern nach Lösungen." (Henry Ford)

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News