In Palästina herrscht noch immer Krieg, und das israelische Militär bereitet weitere Großangriffe in Gaza vor. Während Millionen von Palästinenser:innen in katastrophalen Zuständen leben, appellieren westliche Politiker:innen an die Israelis, die Angriffe zu stoppen. Doch die palästinensische Bevölkerung wird nicht durch das Taktieren von Scholz und Biden befreit werden. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.
Vor kurzem segnete die israelische Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud) den lange diskutierten Angriff auf Rafah im Süden von Gaza ab. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann die israelische Armee in die Stadt an der Grenze zu Ägypten eindringt. In Rafah leben mittlerweile etwa 1,5 Millionen Menschen, viele von ihnen sind dorthin vor den anhaltenden israelischen Angriffen aus anderen Teilen des Gaza-Streifens geflohen.
Humanitäre Organisationen warnen, dass sich die Lage der Palästinenser:innen durch einen derartigen Angriff noch weiter verschlimmern wird. Neben den direkten Opfern durch israelische Bombardierungen und Angriffe befürchtet die WHO eine Ausweitung der im Norden des Gazastreifens bereits ausgebrochenen Hungerkatastrophe.
Parallel dazu hören wir derzeit von US-amerikanischen und deutschen Politiker:innen eindringliche Appelle an die israelische Regierung, das Leid der Palästinenser:innen zu berücksichtigen. Von vielen wird das als Zeichen gesehen, dass sich im Westen etwas tut. Bröckelt die Unterstützung für Israel? Erleben wir hier tatsächlich die immer wieder herbeigesehnte Diskurs-Verschiebung?
Die neue Moral von Scholz, Blinken und Biden
Es scheint auf den ersten Blick tatsächlich so zu sein, dass sich etwas geändert hat: Aus den Ministerien und von den Regierungschefs hören wir ungewohnt deutliche Kritik an der israelischen Angriffspolitik. Selbst die Tagesschau schreibt in ihren Berichten über die diplomatische Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in dieser Woche von einer „veränderten Rhetorik“. Dass die israelische Armee wirklich versuche, zivile Opfer zu vermeiden, wie Netanjahu und andere israelische Politiker:innen immer wieder behaupten, scheint Scholz nicht zu glauben.
Auch auf europäischer Ebene wird die Kritik an Israels Politik immer deutlicher. Zuletzt verhängte die EU sogar zum ersten Mal Sanktionen gegen einige israelische Siedler:innen im Westjordanland. Für die größte Überraschung in den letzten Tagen sorgte allerdings US-Außenminister Antony Blinken (Demokratische Partei) mit seinem Vorstoß auf UN-Ebene. Hatten die USA vor wenigen Wochen noch Initiativen für eine Resolution mit der Forderung nach sofortigem Waffenstillstand in Gaza blockiert, so brachte Blinken am Mittwoch einen eigenen Entwurf für eine derartige Resolution in den UN-Sicherheitsrat ein. Scholz stimmte sofort in den Ruf mit ein. Aktuell laufen die Verhandlungen für die Feuerpause in Gaza, es ist jedoch nicht wahrscheinlich, dass sie tatsächlich zu einem Stopp der Kampfhandlungen führen werden.
US-Präsident Joe Biden hatte zuletzt ohnehin die Israelis immer wieder aufgefordert, die Angriffe in Gaza zu stoppen. Sogar Hilfsgüterlieferungen an die palästinensische Bevölkerung wurden durch die amerikanische Regierung ermöglicht. Bei vielen entsteht nun deswegen der Eindruck: Das Leid der Palästinenser:innen und die weltweiten Proteste, nicht zuletzt bei der großen Rede zur State of the Union, der „Ansprache zur Lage der Union“ von Biden selbst, scheinen endlich zu einem Umdenken im Westen zu einzuläuten.
Führen also unsere unermüdlichen Appelle an unsere Regierungen dazu, dass sie ihre Fehler erkennen, eine neue Strategie einschlagen, Druck auf Israel ausüben, damit Netanjahu von seinem Kriegskurs abbringen und so den Palästinenser:innen zu Frieden verhelfen? – Schön wärs.
Die vorherrschende Moral ist die Moral der herrschenden Klasse
Weder Scholz noch Biden wird es um unsere Forderungen oder das Leid der Palästinenser:innen gehen. Mögen sich die westlichen Politiker:innen derzeit als maßvolle und moralische Friedensstifter aufspielen – um einen Waffenstillstand oder ein Ende der Gewalt gegen die Palästinenser:innen geht es ihnen dabei keinesfalls. Tatsächlich steht einzig und allein die große Frage im Fokus, wie ein Palästina nach dem Krieg aussehen soll. Konkret: um eine Zweistaaten-Lösung oder die volle israelische Kontrolle über ganz Palästina?
Die deutsche Regierung, allen voran Scholz und Annalena Baerbock (Grüne), verfolgen noch immer hartnäckig das Ziel einer Zweistaaten-Lösung, also die Existenz von einem israelischen und einem palästinensischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer. Und auch die USA halten an dieser Lösung fest. Eine US-amerikanische UN-Gesandte sagte bereits im November, zu Beginn der Spannungen zwischen den USA und Israel, dass nach Kriegsende der Weg für eine Zweistaaten-Lösung weiterhin offen sein müsse.
Diese Politik entspricht den Interessen der USA und Deutschland in der Region. Sowohl die USA als auch Deutschland können und wollen es sich nicht leisten, Israelis oder Arabische Länder komplett fallenzulassen. Dieser „Weg zu einer Zweistaaten-Lösung“, der mit den beiden Oslo-Abkommen vor 30 Jahren diplomatisch festgemacht wurde, aber eigentlich niemals wirklich eingeschlagen wurde, ermöglichte es den westlichen imperialistischen Staaten, sowohl Israel weiterhin seine kriegerische und aggressive Politik gegen die Palästinenser:innen fortführen zu lassen und gleichzeitig arabische Partnerstaaten wie Saudi-Arabien und Ägypten immer wieder mit diplomatischen Versprechungen zu binden. Saudi-Arabien selbst nutzt beispielsweise heute die Vision einer Zweistaaten-Lösung, um die eigene unterdrückerische Politik gegen andere arabischen Völker in Zusammenarbeit mit den westlichen imperialistischen Mächten zu rechtfertigen.
Fordern Biden, Blinken, Baerbock und Scholz also einen Waffenstillstand und Hilfsgüter für die Palästinenser:innen, dann tun sie das, um ihr doppeltes Spiel in Westasien weiter spielen zu können: Einerseits Unterstützung von Israel und zum Beispiel Aufrechterhaltung der guten Beziehung der eigenen Konzerne zu Israels High-Tech-Start-Ups, die immer wieder durch ihre Innovationen Vorsprünge gegenüber der Konkurrenz liefern können. Andererseits eine Befriedung der ganzen Region durch die Bindung der arabischen Staaten am Golf und außerdem Sicherung des Zugangs zu den immer knapper werdenden fossilen Brennstoffen.
Die israelische Strategie: Tabula Rasa
Israel selbst verfolgt jedoch eigene Ziele und hat sich schon längst von der Zweistaaten-Lösung abgewandt. Der Krieg, den wir jetzt erleben, ist nur die Fortführung der aggressiven Politik der letzten Jahrzehnte, mit der die verschiedenen israelischen Regierungen, oft unter Netanjahus Führung, die Möglichkeiten eines palästinensischen Staats und der Selbstbestimmung der palästinensischen Nation systematisch vernichtet haben: Siedlungspolitik, Embargos, Militäreinsätze, Bombardierungen, Apartheid, kulturelle Auslöschung – alles dient letztendlich dazu, eine Selbstbestimmung der Palästinenser:innen im wirtschaftlichen und politischem Sinne zu verhindern.
Fakt ist aber auch, dass für Israel der seit Jahrzehnten andauernde Besatzungszustand und die ständigen Kriege mit den Palästinenser:innen nicht aufrecht zu erhalten sind. Der hohe Grad an Militarisierung hat zu großen Spannungen auch im Land selbst geführt – auch derzeit sind Proteste gegen die Regierung Netanjahus an der Tagesordnung. Gleichzeitig jedoch will die Netanjahu-Administration den Krieg nutzen, um neue Fakten zu schaffen.
Auch die israelische Regierung weiß, dass die Zweistaaten-Lösung längst Geschichte ist und dass die Akzeptanz der Palästinenser:innen für die von Israel gebilligte Pseudo-Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas so gering ist wie nie. Die Ereignisse vom 7. Oktober haben gezeigt, dass die Palästinenser:innen in der Lage sind, auch im Zustand der totalen Belagerung offensiv Widerstand zu leisten. Der palästinensische Widerstand wird nicht einfach verschwinden.
Die israelische Regierung hat sich auch deshalb so lange den Rufen nach Waffenstillstand verweigert, weil sie momentan die Chance sieht, nicht mehr und nicht weniger zu tun, als ein altes Problem dauerhaft zu lösen: Das Problem ist der palästinensische Widerstand und die Regierung der Palästinenser:innen durch die unnachgiebige Hamas – die Lösung ist die Zerschlagung jeglicher Infrastruktur und die Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza mit genozidalen Mitteln. Wo sollen die Palästinenser:innen hin, wenn Rafah angegriffen wird, fragen jetzt Scholz und Biden. Netanjahus Antwort steht schon lange fest: Raus aus Palästina. Israel will nicht zum Status Quo vor dem 7. Oktober zurück, sondern endlich die volle Kontrolle über den Gazastreifen.
Was wir lernen können: unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen
Eine „Diskurs-Verschiebung“ mag nun dazu führen, dass vorerst ein Waffenstillstand in Gaza herrscht und Hilfsgüter geliefert werden können. Doch ein Waffenstillstand, der von Blinken und Scholz gefordert und aufgedrückt wird, wäre letztendlich nur ein Aufschieben weiterer Gewalt gegen die Palästinenser:innen. Vergessen wir nicht, dass Scholz und Blinken Vertreter und Verteidiger der Ordnung sind, die den Zustand in Gaza und die anhaltende Unterdrückung des palästinensischen Volkes überhaupt erst hervorgebracht haben. In Palästina ist der imperialistische Gegensatz zwischen reichen kapitalistischen Staaten und unterdrückten ausgebeuteten Nationen für uns alle so unmittelbar sichtbar wie kaum an einem anderen Ort auf der Welt. Warum sollten wir glauben, dass die imperialistischen Politiker:innen nun plötzlich anders handeln, als im eigenen wirtschaftlichen Interesse?
Schauen wir, um nur ein Beispiel zu nennen, auf den Hafen, den die US-Amerikaner:innen in Windeseile in Gaza erbaut haben. Offiziell stellen sie sich nun in die Öffentlichkeit und behaupten, dadurch die Lieferung von Hilfsgütern für die Palästinenser:innen beschleunigen zu wollen. Doch alle Anzeichen deuten vor allem daraufhin, dass mit dem Hafen bereits die Dominanz über die noch unangetasteten reichhhaltigen Erdgasfelder vor der Küste Gazas für die Zeit nach dem Krieg gesichert werden sollen.
Was können wir also aus Palästina lernen? Vor allem, dass eine Hoffnung auf Diskurs-Verschiebung und ein Appellieren an die Moral der imperialistischen Regierungen nichts bringen werden. Es wird keinen gerechten Frieden unter der Führung der imperialistischen Mächte geben. Wer immer noch glaubt, dass wir mit Bitten und Forderungen an die deutsche Regierung etwas erreichen, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Es gilt, unseren Forderungen Taten folgen zu lassen. Nur, wenn wir klassenkämpferisch dem deutschen Imperialismus in den Rücken fallen, ihn mit der Wucht von Streiks und Aufständen bekämpfen, ihn letztendlich in die Knie zwingen und selbst die Geschicke dieses Landes übernehmen, können wir die imperialistische Politik Deutschlands in Westasien, in Europa und überall auf der Welt beenden.