75 Jahre nach Gründung der NATO scheint die Gefahr eines neuen Weltkrieges so groß wie seit 1945 nicht mehr. Dabei ist die NATO kein „Verteidigungsbündnis“ und sichert nicht den Frieden, sondern führt seit Jahrzehnten aggressiv Kriege um die Aufrechterhaltung und Ausdehnung der Einflussgebiete ihrer Mitgliedsstaaten. Doch auch die NATO-Gegner Russland, China und Iran verfolgen imperialistische Interessen. Eine friedliche Welt kann nur gegen die imperialistischen Mächte geschaffen werden. – Ein Kommentar von Thomas Stark
In ihrem Jubiläumsjahr hat die NATO über 80.000 Soldat:innen mobilisiert. Unter dem Namen „Steadfast Defender“ hält sie das größte Kriegsmanöver seit Jahrzehnten ab. Geprobt wird die schnelle Verlegung großer Kampfverbände in Osteuropa. Das Übungsszenario ist ein russischer Angriff, der zum Ausrufen des Bündnisfalls und zum Krieg an der „Ostflanke“ der NATO führt.
Auch die Bundeswehr ist unter dem Manövernamen „Quadriga 2024“ mit 12.000 Soldat:innen beteiligt: Darunter bayerische Gebirgsjäger, die den Kriegsfall in Norwegen simulieren, das berüchtigte Kommando Spezialkräfte (KSK), das in Ungarn und Rumänien zum Einsatz kommt, sowie die 10. Panzerdivision, die im Mai nach Polen und Litauen fahren soll. Flankiert werden soll der simulierte Landkrieg durch Übungen von Marineeinheiten und Luftstreitkräften vor allem aus den USA und dem Vereinigten Königreich.
Vorbereitung des Krieges um Europa
Das Manöver dient natürlich nicht spielerischen Zwecken und ist auch keine geschmacklose Art von Jubiläumsfeier. Der Zeitpunkt — zwei Jahre nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine — ist auch nicht zufällig gewählt: „Steadfast Defender“ dient genau dem Zweck, der geübt wird, nämlich der Vorbereitung der NATO auf einen Krieg mit Russland. Ein solcher Krieg ist 20 Jahre nach der NATO-Osterweiterung von 2004 längst kein theoretisches Gedankenspiel mehr. Der deutsche Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) hält ihn innerhalb „von fünf bis acht Jahren“ für möglich. Deshalb will er die Bundeswehr und die deutsche Gesellschaft „kriegstüchtig“ machen.
Deutschland rüstet weiter auf: Größte Militärübung seit Kaltem Krieg
Deutschland, die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Polen — aber auch Russland und seine Verbündeten treiben die Vorbereitungen auf einen großen Krieg in Europa voran, alle mit ihren eigenen, spezifischen geostrategischen Interessen: Sie alle wollen im Zuge des Kriegs die Welt neu aufteilen, eine bessere Position für das eigene Land und mehr wirtschaftliche Einflussgebiete für die eigenen kapitalistischen Konzerne herausholen. Der NATO als Bündnis der westlichen Mächte ko dabeimmt eine Schlüsselrolle bei der Kriegsvorbereitung zu. Sie steht bereits seit 75 Jahren für imperialistische Kriegspolitik.
Vom antikommunistischen Kriegsbündnis zur Vormacht in Osteuropa
Gegründet wurde die NATO (North Atlantic Treaty Organization / Nordatlantikpakt-Organisation) im April 1949 unter der Führung der USA als nordamerikanisch-westeuropäisches, antikommunistisches Militärbündnis. Das von der Sowjetunion angeführte sozialistische Lager hatte sich nach dem Sieg der alliierten Mächte über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg bis nach Mitteleuropa ausgedehnt, Deutschland war geteilt. Der erste Zweck der NATO war die Eindämmung und Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses. Hierzu wurde auch der westdeutsche Staat 1955 ins Bündnis aufgenommen und durfte im Zuge dessen mit der Bundeswehr wieder eine eigene Armee aufbauen. Die NATO-Staaten verpflichteten sich im Falle eines bewaffneten Angriffs auf eines ihrer Mitglieder zur gemeinsamen Verteidigung (Artikel 5 des Nordatlantikvertrags). Die USA bauten im Rahmen der NATO ihre Militärpräsenz in Westeuropa massiv aus, etwa durch Militärbasen in Westdeutschland, Italien und der Türkei. Hierdurch wurden sie auch militärisch zur Hegemonialmacht in der Region. Die NATO war dabei niemals ein homogenes Bündnis, sondern immer von den konkurrierenden Interessen ihrer Mitgliedsstaaten geprägt. Dies ging so weit, dass Frankreich seine Teilnahme an der militärischen Struktur der NATO zwischen 1966 und 2009 ausgesetzt hatte.
Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 konnten die westlichen imperialistischen Staaten ihre Macht für einige Jahre nahezu ungehindert ausdehnen. Die NATO begann mit der Erweiterung ihres Einflussgebietes in Osteuropa und auf dem Balkan, führte mehrere Angriffskriege, so etwa 1999 gegen Serbien, 2001 auf Afghanistan und 2011 gegen Libyen, und errichtete Besatzungsregimes in Kosovo und Afghanistan. Hinzu kommen weitere NATO-Militäreinsatze wie z.B. in Bosnien-Herzegowina und Somalia — außerdem unzählige von den USA und anderen NATO-Staaten angezettelte Kriege (z.B. Vietnam, Irak), Interventionen und Militärputsche in allen Teilen der Welt seit 1949. Den Bündnisfall nach Artikel 5 rief die NATO nur ein einziges Mal aus, nämlich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zur Vorbereitung des Überfalls auf Afghanistan.
Ab 1999 nahm die NATO in mehreren Schritten die ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas (u.a. Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien) auf und rückte mit der Osterweiterung von 2004 und der Aufnahme von Estland, Lettland und Litauen sogar bis auf ehemaliges sowjetisches Territorium vor. Damit stand das Militärbündnis direkt an der russischen Grenze — und damit an der Grenze ihres stärksten Konkurrenten um die Vormacht in Europa und der zweiten großen Atommacht neben den USA. 2008 räumte die NATO auch der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive ein, woraufhin Russland mit dem Einmarsch seiner Truppen in Teile Georgiens reagierte. Der Versuch der amerikanisch-europäischen Imperialisten, die Ukraine vollständig aus dem russischen Einflussbereich herauszulösen und hierzu pro-westliche Kräfte an der Macht zu installieren, führte 2014 zum Maidan-Putsch und zum Krieg in der Ostukraine. 2022 griff Russland das Land schließlich an.
Ukraine-Krieg und unterschiedliche Interessen der NATO-Mitglieder
Heute umfasst die NATO 32 Mitgliedsstaaten. Zuletzt traten Finnland und Schweden dem Pakt bei. Damit gibt es zwischen der NATO und Russland keine neutralen Pufferstaaten mehr. Der Krieg um die Ukraine hat die Interessengegensätze in Europa offengelegt und die Vorbereitungsphase für einen direkten zwischenimperialistischen Krieg eingeleitet — nichts anderes steckt hinter Olaf Scholz’ Formel von der „Zeitenwende“. In ihrem neuen Strategischen Konzept von 2022 definiert die NATO Russland als die „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“.
Im Moment wollen zwar weder die NATO-Staaten noch Russland den offenen Krieg miteinander beginnen: Die ukrainische Armee kämpft daher als Stellvertreterarmee mit westlichen Waffen und westlicher Aufklärung gegen Russland. Dies liegt aber vor allem daran, dass beide Seiten einen direkten Krieg möglichst gut vorbereitet führen wollen. In diesem Sinne ist auch Pistorius’ Zeithorizont von fünf bis acht Jahren zu verstehen.
Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass sich gerade die Stimmen in den USA und Deutschland mehren, die eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg fordern. Nach einigen empfindlichen russischen Geländegewinnen in den letzten Monaten könnte ein Waffenstillstand der Ukraine und ihren Verbündeten eine Atempause bringen, um den Krieg später, unter besseren Voraussetzungen fortzusetzen und die russische Armee aus Teilen der besetzten Gebiete zurückzudrängen. Wenn Frankreich und Polen dagegen den Einsatz eigener Truppen in der Ukraine gegen den Protest Deutschlands ins Spiel bringen und das Vereinigte Königreich Deutschland zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern drängen will — was einem Aufgeben strategisch wichtiger Waffensysteme im eigenen Land gleichkäme — offenbart dies nur die konkurrierenden Interessen innerhalb der NATO: Am Ende will auch dort jeder jeden ein bisschen schwächen.
Für die USA dient das Bündnis der Einbindung der europäischen Länder in die Sicherung der eigenen Vormachtstellung in der Welt — auch um sich in Zukunft vor allem auf die Pazifikregion und den Kampf gegen den Aufstieg Chinas fokussieren zu können. Deutschland verfolgt dagegen die Strategie, sich innerhalb der NATO an die US-Militärmacht anzulehnen und dabei die eigenen hegemonialen Interessen in Mittel- und Osteuropa voranzutreiben. Dafür ist es jetzt auch bereit, selbst aufzurüsten und zur Kriegsmacht zu werden.
Eine friedliche Welt nur im Kampf gegen den Imperialismus
Die NATO ist ein aggressives Kriegsbündnis, das seinen Mitgliedsstaaten zur Beförderung ihrer Herrschaftsinteressen in Europa dient und das heute vor allem den Krieg gegen Russland vorbereitet. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass der russische Staat in irgendeiner Weise eine fortschrittliche Rolle in der Weltpolitik spielen würde — auch wenn Putin versucht, den Krieg in der Ukraine als antifaschistisch darzustellen.
Russland verfolgt ebensolche imperialistischen Interessen in Europa und der Welt wie die westlichen Staaten, wie es mit seinem Überfall auf die Ukraine und seinem Eingreifen in den Syrien-Krieg ausgiebig unter Beweis gestellt hat. Dasselbe gilt für China und den Iran, die in der aktuellen Weltlage enge Beziehungen zu Russland unterhalten. All diese Mächte sind über kurz oder lang an einem großen Krieg um die Neuaufteilung der Welt interessiert, aus dem sie möglichst als Sieger hervorgehen möchten. Sie unterscheiden sich allenfalls darin, wann sie einen solchen Krieg für sich für vorteilhaft halten und welche Rolle sie in diesem spielen können.
Der Kriegsgefahr entgegenzutreten kann daher nicht heißen, sich auf die Seite der einen oder anderen imperialistischen Macht zu schlagen. Denn sie alle zetteln Kriege im Interesse ihrer eigenen Konzerne und Finanzgruppen an, und sie werden nicht zögern, dafür Millionen Arbeiter:innen und Ausgebeutete zu verheizen. Für uns in Deutschland bedeutet das, dass wir vor allem den Kriegsvorbereitungen im eigenen Land entgegentreten müssen, dem Ausbau von Waffenfabriken, der Militarisierung von Staat und Gesellschaft, den Zivilschutzübungen in Schulen und den Vorstößen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Eine friedliche Welt können wir nur im Kampf gegen den Imperialismus schaffen.