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Dienstag, September 10, 2024
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    Eskalation im Ukraine-Krieg: Vorstoß auf russisches Staatsgebiet

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    Am Dienstag startete die Ukraine eine neue Offensive auf russisches Gebiet. Mit einem erstmals breit vorbereiteten Vorstoß überraschten die ukrainischen Streitkräfte nicht nur den Kreml sondern auch westliche Verbündete. Welchen Zweck hat der Vorstoß und wie wird er sich auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken?

    Zwar hatte es schon zuvor einige Angriffe und Vorstöße von ukrainischer Seite auf russisches Staatsgebiet gegeben, doch die neue Offensive auf das gegnerische Grenzgebiet Kursk stellt eine neue Entwicklung im Ukraine-Krieg dar: Erstmals handelt es sich hierbei nicht nur um kleinere Attacken, sondern um eine groß angelegte und langfristig geplante Offensive mit erheblichem Geländegewinn für die ukrainischen Truppen. Insbesondere im Kontext sich immer stärker verhärtender Fronten ist der Angriff für alle Seiten eine große Überraschung. Zuvor hatte sich der Konflikt immer mehr zu einem Stellungskrieg entwickelt.

    Ukraine-Krieg: Weitere Eskalationen in Aussicht

    Beim Angriff, den Präsident Putin als eine „groß angelegte Provokation“ betitelte, sind russischen Angaben zufolge rund 1.000 ukrainische Soldat:innen im Einsatz. Laut Militärbloggern haben diese es geschafft, rund 15 Kilometer in russisches Staatsgebiet einzudringen und mehrere Siedlungen einzunehmen. In der Grenzregion wurde ein Ausnahmezustand ausgerufen, und mehrere tausend Bewohner:innen wurden evakuiert. Russische Offizielle gaben an, die Offensive gestoppt zu haben und dass die Lage „unter Kontrolle“ sei. Militärblogger hingegen berichten, dass der Vorstoß weiterhin andauere.

    Ungefähr 60 Kilometer von der Grenze befindet sich das russische Atomkraftwerk Kursk, welches nun verstärkt geschützt werden soll. Außerdem verläuft durch das Grenzgebiet die einzige Gasleitung nach Europa, die auch trotz des Kriegs große Mengen an Erdgas in EU-Staaten liefert. Die Gasversorgung ist laut Gazprom allerdings nicht betroffen und läuft weitgehend normal. An einer Störung der Pipeline haben zum jetzigen Zeitpunkt keine der beiden Kriegsparteien ein offensichtliches Interesse – Russland aus ökonomischen Gründen, und die Ukraine will vermutlich westliche Verbündete nicht unnötig verärgern.

    Welchen Zweck verfolgt die Ukraine mit den Angriffen?

    Bisher hat sich die ukrainische Regierung nicht zum Vorstoß geäußert. Dementsprechend kann man noch nicht vollends sagen, welches Ziel die Ukraine mit der Offensive verfolgt. Spekulationen gibt es hingegen reichlich:

    Zum einen ist es möglich, dass die Ukraine auf diese Weise versucht, russische Streitkräfte in Kursk zu binden, um an anderen Stellen der Front Entlastung zu schaffen. Ob dies erfolgreich sein kann, ist anzuzweifeln – schließlich gibt es in Kursk russische Einheiten, die ebenfalls mobilisiert werden können. Außerdem hinge eine solche Strategie davon ab, ob die Ukraine das eroberte Gebiet langfristig absichern könnte. Angesichts der personellen Unterlegenheit ist das fraglich.

    Ebenfalls ist nicht auszuschließen, dass die Ukraine lediglich versucht, die Moral sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Soldat:innen hoch zu halten. In seiner gestrigen Abendansprache sagte Präsident Selenskyj: „Russland hat den Krieg in unser Land gebracht und soll spüren, was es getan hat“. Außerdem betonte er: „Ukrainer können ihre Ziele erreichen“. Bei den Angriffen wurde z.B. eine Vielzahl an russischen Fahrzeugen und Kriegsmaschinerie zerstört.

    Baldige Friedensverhandlungen?

    Zuletzt bleibt noch die Möglichkeit, dass die Ukraine auf baldige Friedens- oder zumindest Waffenstillstandsverhandlungen spekuliert und sich mit dem eroberten Gebiet einen Faustpfand sichern will, um bei möglichen Verhandlungen mehr Macht zu haben. Dafür spricht, dass Kyrylo Budanow, Direktor des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, vor kurzem mutmaßte, dass die russische Offensive innerhalb der nächsten zwei Monaten enden werde.

    Durch die potentiell gewonnene Kontrolle einer Gas-Transitstation in der Nähe der russischen Stadt Sudscha könnte die Ukraine hierbei tatsächlich einen besseren Ausgangspunkt für mögliche Verhandlungen erlangt haben – das zeigt zumindest die panische Reaktion der Gasmärkte auf die Geschehnisse. Dieser Effekt wäre natürlich umso stärker, sollte es den ukrainischen Soldat:innen gelingen, die Kontrolle über das AKW Kursk zu erkämpfen.

    Verbündete geben Rückendeckung, wenn auch teils zögerlich

    Mit dem Vorstoß überraschte die Ukraine allerdings nicht nur die russische Regierung, sondern auch die westlichen Verbündeten: Weder EU-Staaten, noch die USA wurden vorgewarnt beziehungsweise im Vorhinein über die anstehenden Angriffe informiert. Die Reaktionen fallen trotzdem im Allgemeinen positiv aus und betonen die Fortsetzung der Unterstützung. So teilte ein EU-Sprecher mit, dass die EU den Vorstoß im Kontext des Selbstverteidigungsrecht sehe und betonte, dass man die Ukraine auch weiterhin in ihren Bemühungen unterstützen wolle.

    Die USA halten sich bisher größtenteils bedeckt. Zunächst teilte man nur mit, von dem Angriff nichts gewusst zu haben und sich mit dem ukrainischen Militär absprechen zu wollen. Bei seiner gestrigen Pressekonferenz teilte das Pentagon nun mit, dass der Angriff und der damit verbundene Einsatz amerikanischer Waffen mit der US-amerikanischen Außenpolitik vereinbar sei. Allerdings betonte man ebenso, dass man Langstrecken-Angriffe nicht unterstütze.

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    Auch von der CDU bekommt die Ukraine Rückendeckung – Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter betonte gegenüber dem Spiegel: „Der Vorstoß ukrainischer Truppen in Kursk ist völkerrechtlich legitim und militärstrategisch sinnvoll, er stellt keine Eskalation dar, sondern ist im Sinne des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine“. Dieser Aussage stimmen auch Teile der SPD zu, sowie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marcus Faber (FDP).

    Die Unterstützung der Ukraine variiert allerdings bei deutschen Politiker:innen unterschiedlich stark je nach Region. Im Osten punkten gerade beispielsweise AfD und BSW mit einer Verurteilung des Angriffs, um sich so Stimmen für die anstehenden Landeswahlen zu sichern. Auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sprach sich vor kurzem dafür aus, sich stärker für Frieden einzusetzen. Hessen hingegen weigert sich seit kurzem, ukrainischen Männern im wehrpflichtigen Alter neue Pässe auszustellen und meint, dass es ihnen zumutbar sei, dafür in die Ukraine zu reisen.

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    Und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) forderte nun eine Kürzung der Waffenhilfe an die Ukraine. Gegenüber den Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er: „Wir können nicht länger Mittel für Waffen an die Ukraine in die Hand nehmen, damit diese Waffen aufgebraucht werden und nichts bringen“. Er begründete dies allerdings nicht mit den kürzlichen Angriffen, sondern wegen der mit den Waffenlieferungen verbundenen Kosten. Er möchte stattdessen auf Diplomatie setzen.

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