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Donnerstag, September 12, 2024
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    Nicht die Messer töten

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    Die Medien überschlagen sich mit Berichten über einen sprunghaften Anstieg neuer Straftaten mit Messern. Die Politiker:innen der bürgerlichen Parteien überbieten sich gegenseitige mit immer härteren Maßnahmen. Was steckt hinter dem Phänomen ,,Messerkriminalität“? – Ein Kommentar von Mark Marat.

    „Crime sells“ – Diese alte Marketingweisheit wird im Journalismus und von bürgerlichen Politiker:innen allzu gerne aufgegriffen. Für den einen bringen sie Auflage, für die anderen mediale Aufmerksamkeit und die Möglichkeit sich persönlich zu profilieren. Sie versuchen sich als Vertreter:in von „Recht und Ordnung” aufzuspielen.

    Der derzeitige Kassenschlager ist die sogenannte „Messerkriminalität“. Hierunter werden Straftaten verstanden, bei denen Messer als Tatmittel verwendet werden. In der Regel wird hauptsächlich davon gesprochen, wenn es sich um Gewaltdelikte wie Körperverletzungs- und Tötungsdelikte handelt, obgleich dieses Tatmittel natürlich auch im Rahmen von anderen Delikten verwendet werden kann, um hiermit zu drohen (beispielsweise bei Raub oder Nötigung).

    Bei der Thematisierung dieses Phänomens werden zwei Erzählungen immer wieder aufgegriffen. Zum einen, dass die Zahl der Straftaten mit dem Tatmittel Messer sich im ständigen Wachstum befindet und daher eine Problematik von erheblicher kriminalpolitischer Relevanz darstellt. Zum anderen, dass an diesem stetigen Anstieg vor allem eine Tätergruppe schuld sein soll: Personen mit Migrationshintergrund.

    Keine ausreichende Vergleichsgrundlage

    Was die Zunahme der kriminellen Handlungen mit Messern angeht, so wird in der Regel auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verwiesen. Hierbei handelt es sich um ein Zahlenwerk, welches das Bundeskriminalamt (BKA) auf der Grundlage der Daten der einzelnen Bundesländer erstellt. Sie erfasst jedoch nur das Hellfeld, also die den Polizeibehörden durch Anzeigen bekannt gewordenen mutmaßlichen Straftaten. Sie ist also in keinem Fall eine umfassende Darstellung der objektiven Kriminalitätslage in der BRD, da sie maßgeblich vom Anzeige- und Kontrollverhalten abhängt und somit das Dunkelfeld nicht erfasst.

    In Bezug auf Messerangriffe sind für die PKS zwei Dinge erwähnenswert: Zum einen wird die Verwendung des Tatmittels Messer für Gewaltdelikte erst seit dem Jahr 2020 in dieser Statistik erfasst. Es existiert bislang also erst ein kurzer Vergleichszeitraum. Zuverlässige Feststellungen über die Entwicklung der Häufigkeiten über längere Zeiträume auf der Grundlage einheitlicher Erhebungskriterien sind damit nicht möglich. Das heißt, auch wenn im (begrenzten) Erhebungszeitraum ein Anstieg der absoluten Häufigkeit vorliegt, wäre es unwissenschaftlich, hieraus einen tatsächlichen Trend ableiten zu wollen.

    Zum anderen wird zu oft nur die absolute Häufigkeit der Delikte mit dem Tatmittel Messer betrachtet, d.h. die Zahl der Straftaten. Dabei wird die relative Häufigkeit, also die Zahl im Vergleich zu anderen Tatmitteln bei schweren Gewaltdelikten, unberücksichtigt gelassen. Schaut man sich die PKS für 2023 an, so sehen wir, dass beispielsweise lediglich 10 % der schweren Gewaltdelikte mit dem Messer begangen werden. Folglich werden 90% mit anderen Tatmitteln begangen.

    Verzerrungseffekte bei Statistik und Berichterstattung

    Was die zweite Erzählung, die angebliche Schuld von Personen mit Migrationshintergrund am Anstieg dieses Phänomens angeht, ist festzustellen: Auch wenn eine Überrepräsentation von Personen mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit festzustellen ist, ist die Ursache nicht in einer irgendwie gearteten mysteriös-biologischen Kriminalitätsneigung dieser Personen zu suchen, sondern vielmehr in einem strukturellen ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Phänomen.

    In diesem Beispiel könnten sowohl die ökonomische als auch die gesellschaftliche Unterdrückung migrantischer Arbeiter:innen durch den deutschen Staat als Gründe herhalten. Diese Annahme erscheint deutlich logischer, als dass „die Ausländer“ oder deren „fremde Kultur“ ursächlich für vermehrte Messerattacken sein sollen.

    Ein zusätzlicher Verzerrungseffekt kommt auf, da Taten von Personen, die nicht der eigenen Ethnie zugerechnet werden, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu Anzeige gebracht werden und somit Eingang in die Statistik finden. Angesichts des institutionellen Rassismus in Deutschland erstatten Migrant:innen deutlich seltener Anzeige und werden zugleich häufiger angezeigt.

    Gleiches gilt für die Berichterstattung. Nicht nur die Tat ist für die Presse relevant, oft zählt vielmehr, wer sie begeht. In einem von Rassismus dominierten gesellschaftlichen Klima bringt ein tatsächlicher oder vermuteter Migrationshintergrund beim Täter viel mehr Auflage und Klicks unter „besorgten“ deutschen Bürger:innen.

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    Angst wird geschürt

    Durch die ständige mediale Verbreitung dieser Narrative werden jedoch gezielt Impulse in die Gesellschaft gesendet. Bei vielen Menschen steigt die Kriminalitätsfurcht, die Angst vor Fremden. Sie fühlen sich im öffentlichen Raum nicht mehr sicher und haben Angst davor, selbst Opfer eines Messerangriffs zu werden, weil sie ständig aus den Medien erfahren, dass diese Straftaten ja zunähmen.

    Dazu trägt auch bei, dass in der medialen Berichterstattung derartige Straftaten oft nicht kriminologisch korrekt eingeordnet werden. Zum Beispiel geschieht ein Großteil der Straftaten auf der Grundlage einer bereits bestehenden sozialen Beziehung zwischen Täter:in und Opfer. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer solchen Straftat im öffentlichen Raum durch eine unbekannte Person zu werden, ist hingegen gering.

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    Die Marktschreier übertönen sich

    Auf der politischen Ebene findet nun ein Überbietungswettbewerb darum statt, wer härter gegen die angeblich aufbrandende Welle der ,,Messerkriminalität“ vorgeht. Da werden dann solche Maßnahmen aufgeboten wie Anpassung des Waffenrechts, „anlasslose“ Taschenkontrollen, Ausweitung von „Messerverbotszonen“ und eine „Abschiebungsoffensive“.

    Mit alldem treiben die herrschenden Parteien die Spaltung der Arbeiter:innen voran und bringen Migrant:innen in eine verwundbare Situation, sodass diese in den Niedriglohnsektor gedrängt werden können.

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    Damit stärken sie zugleich die Verankerung der faschistischen Ideologie (und damit der Faschist:innen selbst) in der Bevölkerung. Der angebliche kriminelle Ausländer ist seit Jahrzehnten der Topseller für den braunen Marktschreier. Welche Straftat er begeht, das ist dabei völlig austauschbar: Diebstahl, Vergewaltigung oder Drogen, alles ist möglich. Aber spätesten seit einer Rede aus dem Jahr 2018 im Deutschen Bundestag ist die aktuelle Marschrichtung vorgegeben. Schuld seien die ,,Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“, verlautete da die AfD-Vorsitzende Alice Weidel.

    Wenn die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nun eine Änderung des Waffenrechtes dahingehend plant, dass nur noch Messer mit einer Klingenlänge von 6 cm mitgeführt werden dürfen, dann drängt sich der Eindruck auf, die Rechten machten die Hetze und die Ampel die Gesetze.

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    Kriminalpolitik als Machtinstrument

    Dabei gibt es eine Kausalität, die feststellbar, aber weder etwas mit Klingenlänge noch mit der Nationalität zu tun hat. Diese besteht darin, dass das Mitführen von Messern einen wichtigen Einflussfaktor auf Gewalttaten hat. Wer ein Messer mit sich führt, wird es auf der Grundlage von situativen Eskalationsdynamiken wahrscheinlich auch verwenden. Aber wieso führen Menschen Messer mit sich?

    In kriminologischen Untersuchungen hierzu konnten mögliche Faktoren identifiziert werden, wie beispielsweise eigene Opfererfahrungen, kriminelle Peergroups oder patriarchal geprägte Vorstellungen, wonach Männer gewalttätig ihre Probleme lösen müssten. Eine evidenzbasierte Kriminalpolitik würde verlangen, die tatsächlichen Ursachen von Kriminalität in ihrer Komplexität zum Ausgangspunkt für ihre Bekämpfung zu machen und nicht einen marktschreierischen Wettstreit um härtere Maßnahmen zu inszenieren.

    Dies würde jedoch voraussetzen, soziale Probleme wie die Kriminalität in ihrer Multidimensionalität und mit ihren vielen Gründen zu erfassen, und das würde in letzter Konsequenz dazu führen, unsere derzeitige Gesellschaftsordnung als einen Hauptfaktor zu identifizieren. Dazu sind bürgerliche Politiker:innen natürliche nicht in der Lage, weil ihr Klassenauftrag die Erhaltung des bürgerlichen Staates mitsamt dem Kapitalismus ist.

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