Was sind die Ursachen von Glück und Unglück, Wohlbefinden und seelischer Erkrankung, Lebensmut und Depression? Dieser Frage hat sich der britische Journalist Johann Hari gewidmet. Dafür hat er Interviews mit unzähligen ExpertInnen und Betroffenen geführt. In seinem Buch „Der Welt nicht mehr verbunden“ stellt er die Ergebnisse seiner Untersuchungen dar. Die Befunde sind bemerkenswert. Eine Rezension des Buches – von Pa Shan
Johann Hari verwirft die Propaganda der Pharmakonzerne. Während uns die Tablettenlobby weis macht, dass wir durch angebliche „chemische Ungleichgewichte“ oder „Fehlfunktionen“ im Gehirn depressiv werden, verweist der Autor auf mangelnde wissenschaftliche Beweise dafür. Im ersten Teil seines Buches geht es daher darum, bestimmte Erzählungen der Neurowissenschaften und der Psychiatrie zu überprüfen und sie als Märchen zu entlarven, die uns immer wieder in verschiedenen Variationen erzählt werden. Denn die Märchen der Kapitalisten sind bequemer, als die Ursachen in ihrer Ganzheit anzuerkennen.
Die wahren Ursachen von Depressionen…
Anders als es bei solchen Büchern oft der Fall, driftet Hari nicht in Verschwörungstheorien oder esoterische Quacksalberei ab. Er verwirft auch nicht die Relevanz von Glücks- und Stresshormonen im Körper. Aber er weigert sich, in ihnen den Schlüssel zum Glück sehen. Der Autor erkennt vielmehr in „verlorenen Verbindungen“ bzw. in leidvollen Verlusten die eigentlichen Gründe für Trauer und Depressionen. Viele der ExpertInnen, die er interviewt hat, bestätigen seine Annahmen.
„Die meisten, die sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen befasst haben, stimmen darin überein, dass sich die Ursachen für Depressionen und Ängste in drei Kategorien einordnen lassen: in biologische, psychische und soziale“, erklärt der Autor. Er verwirft biologische Ursachen also nicht völlig. Zudem betrachtet er Trauer und Depression vor allem als Warnhinweise auf Dinge, die in unserem Leben schief laufen. Damit rückt er von der Idee ab, man müsse Verstimmungen heilen und richtet den Blick auf die Ursachen, vor allem auf die psychischen und sozialen Ursachen, von denen er neun verschiedene ausmacht.
Sinnlose Jobs, die vor allem dem Luxus unserer Bosse dienen, machen uns demnach depressiv (1). Ebenso schadet uns die immer schlimmer werdende Vereinsamung in den Großstädten und Ballungsräumen (2). Die oberflächlichen und materialistischen Ziele und Werte, die uns die Werbe- und Propagandamaschinerie täglich predigt, verursachen ebenfalls Ängste und Unglück (3). Schreckliche Erlebnisse in der Kindheit (4) und Verarmung und Statusverlust (5), ein Leben in den dunklen und unbelebten Hallen, Buden und Büros, in die wir stundenlang eingepfercht werden, deprimieren uns natürlich auch (6). Perspektivlosigkeit und Sorgen über die Zukunft tun ihr Übriges (7). Gene (8) und Veränderungen im Gehirn (9) sind hingegen nur zwei dieser Vielfalt von Ursachen, keineswegs die ausschlaggebenden.
Psychische Probleme: 160.000 ArbeiterInnen mussten letztes Jahr in die Reha
Das, was der Autor uns sagt, läuft auf diese eine Erkenntnis hinaus: Unsere Lebensbedingungen in Gänze bestimmen über unser Wohlbefinden. Depressiv würden Menschen vor allem, weil es ihnen nicht gelingt, „ihren Lebensstil, ihre Arbeit, ihre Teilnahme am Wirtschaftsleben, ihr Zusammenleben in ihrem Viertel“ befriedigend zu gestalten, erzählt uns beispielsweise der amerikanische Psychologieprofessor Tim Kasser an einer Stelle des Buches.
Mit Verweis auf ihn und andere Interviewpartner erörtert der Autor dann mögliche Lösungsansätze, um das Leben bedeutsamer und befriedigender zu gestalten.
Kleinteilige Lösungsversuche
Leider sind die Lösungen, die Johann Hari dann vorschlägt, keineswegs ausreichend. Aber immerhin weisen sie in die richtige Richtung. So schreibt der Autor: „Bisher haben wir es allein den Betroffenen aufgebürdet, einen Ausweg aus ihren Depressionen oder Ängsten zu finden. Wir belehren oder bedrängen sie, erklären ihnen, sie müssten sich mehr anstrengen oder die Pillen schlucken. Wenn aber das Problem nicht bei ihnen allein liegt, kann es auch nicht von ihnen allein gelöst werden.“
Hari ruft uns damit zu: Wenn du dich mit anderen zusammentust, kannst du deine Umwelt verändern und aus deiner Depression und deinen Ängsten herausfinden! Im letzten Teil seines Buches zeigt er im Detail, wie das aussehen könnte. Mit der LeserInnenschaft fliegt der Autor von einem Ort auf der Welt zum nächsten, um beispielhafte Lösungsansätze aufzuzeigen.
Ein Vorbild erkennt er in einer amerikanischen Fahrrad-Werkstatt, die als demokratische Kooperative organisiert wurde. Die MitarbeiterInnen von „Balitmore Bicycle Works“ haben keinen Chef über sich, der sie herumkommandieren oder schikanieren kann. Sie entscheiden selbst, was zu tun ist und teilen die Arbeit unter sich auf. Auch die Profite des Betriebs werden unter den ArbeiterInnen nach eigenem Ermessen aufgeteilt. Ängste und das Gefühl der Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit, die die ArbeiterInnen zuvor anderswo erlebt hatten, gab es hier nicht mehr. Die ArbeiterInnen waren wesentlich zufriedener als anderswo. Denn hier war die Arbeit eine kollektive Anstrengung mit Sinn.
Ein anderes Vorbild sieht er in einer psychiatrischen Einrichtung in England. „Viele der Patienten waren depressiv, weil ihnen nichts mehr geblieben war, was das Leben lebenswert machte.“ Der dort leitende Arzt erkannte dies und gestaltete die Arbeit der Anstalt daher radikal um. Die PatientInnen wurden mit der gemeinsamen Verschönerung der Anstalt betraut. Ebenso konnten sie ihr Fitnessprogramm und ähnliche Aktivitäten selbst organisieren und schufen so ein ermutigendes und ermunterndes Gemeinschaftsgefühl, das das Leben für sie wieder sinnvoll machte.
Johann Hari fordert zudem einen Wertewandel und ganz allgemein mehr gemeinsame Anstrengungen, das Leben der Menschen angenehmer und sinnerfüllt zu gestalten. Auch in Achtsamkeitsübungen, Meditation, sportlicher Betätigung, Bewegung in der freien Natur und im Konsum bewusstseinserweiternder Drogen sieht er mögliche Wege hin zu einer besseren Gesellschaft. Er berichtet von Menschen, die mit ihrem früheren Leben brachen, um wieder mit sich und ihrer Umwelt ins Reine zu kommen, von Menschen, die von Alkohol, Zigaretten und toxischen Beziehungen abließen, um die wirklich wichtigen Dinge in ihrem Leben zu finden. Er berichtet von homosexuellen Menschen, die erst nach ihrem „Outing“ Zufriedenheit und Selbstbewusstsein gewannen, von Menschen, die ihre zuvor unterdrückten Talente frei setzten und Lebenskünstler wurden. Viele dieser Beispiele sind ermutigend.
Halbgare Lösungsversuche und der Kapitalismus
Leider bleiben all diese Lösungen aber nur halbgar. Denn es sind nicht bloß Pharmalobbyisten und Psychiater, die uns in die Irre führen. Es sind auch nicht einzelne Bosse oder autoritäre Eltern, die uns unterdrücken. Die Befreiung von kapitalistischer Propaganda oder sadistischen Vorgesetzten ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Schaffung neuer Werte und ein besserer Umgang mit uns und Anderen ist wichtig.
Unsere falsche Lebensweise wurzelt nicht einfach in falschen Ideen, sondern in einem gesellschaftlichen System, das uns täglich alle Errungenschaften zu rauben droht. Letztlich ist es der Kapitalismus, der uns körperlich und seelisch kaputt macht. Im müssen wir gemeinsam den Kampf ansagen, um uns wieder die Kontrolle über unser Leben und unser Wohlbefinden anzueignen.
Johann Haris Buch, ob auf Papier oder als Hörbuch, ist absolut lesenswert. Es liefert eine Gegenwartsanalyse und humanistische Kritik des heutigen Kapitalismus in den westlichen Gesellschaften. Und es erklärt das psychische Leiden vieler Menschen aus dieser Gesellschaft.
Für eine Anleitung raus aus dem Kapitalismus sollte man aber lieber zu den Klassikern des Antikapitalismus greifen. Das Manifest der kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels ist z.B. immer noch aktuell und bietet mit dem Vorschlag, den Umsturz des Kapitalismus zu erreichen, die bessere Antwort als bloß zu meditieren und ein paar Kooperativen mehr zu haben.