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Dienstag, April 16, 2024
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    Peking 1989: Massaker oder westliche Propaganda?

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    Vor 30 Jahren: In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 kam es zu aufrüttelnden Gewaltaktionen des chinesischen Militärs gegen die protestierende Bevölkerung. Ein wochenlanger Protest wurde damit gewaltsam beendet. Die “Volksbefreiungsarmee” (VBA) bewies mit dieser Aktion, dass sie wie andere Armeen der Unterdrückung der Bevölkerung diente. – Ein Kommentar von Pa Shan

    Am 15. April 1989 verstarb der ehemalige Generalsekretär der regierenden Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Als „Liberaler“ war Hu Yaobang bei vielen Intellektuellen des Landes ziemlich beliebt, während die „Konservativen“ in der Staatsführung heimlich für ihre Korruption verachtet wurden.

    Daher verwandelten Studierende einen Gedenkmarsch zu Ehren des Verstorbenen in eine politische Demonstration im Zentrum der Hauptstadt Peking. Man besetzte den zentral gelegenen Tian’anmen-Platz, auf dem ein Protest-Camp errichtet worden war, und stellte einen Forderungskatalog auf. Die Studierenden verlangten ein striktes Vorgehen gegen die wachsende Korruption und Vetternwirtschaft in der Gesellschaft.

    Später beteiligten sich auch ArbeiterInnen und Mitglieder der Regierungspartei. Zeitweise sollen zwischen 300.000 und gar Millionen Menschen auf den Straßen gewesen sein. Es gibt berauschende Bilder und Aufnahmen von diesen Wochen. Alles schien in Bewegung zu sein. Mittlerweile hatte sich der Protest explizit gegen die Staatsführung selbst gerichtet, die sich zu Recht vor Massenprotesten fürchtete. Man forderte den Rücktritt des Premierministers und errichtete auf dem Platz symbolträchtig eine „Statue der Demokratie“.

    Da nach über sechs Wochen noch kein Kompromiss zu erzielen war, entschied sich die Führung des Landes, die Bewegung mit Militärgewalt zu beenden. Die Armee rückte mit Panzern und Bewaffneten bis zur Stadtmitte vor und erzwang ein Ende der Proteste.

    Ca. 3.000 Studierende, die bis zu diesem Tag noch auf dem Platz waren, räumten das Protest-Camp ohne Blutvergießen. Dennoch wurden zahlreiche Menschen an diesem Tag getötet. Der 4. Juni ist seither ein Datum, das in China mit einem Tabu belegt ist und der Zensur unterliegt. All das scheint so ähnlich stattgefunden zu haben. Darüber muss nicht groß diskutiert werden.

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    Dennoch sollte man die Berichterstattung im Westen hinterfragen. In Bezug auf den 4. Juni gibt es zuhauf einseitige Propaganda. Das fängt bei den Zahlen an und hört bei der großspurigen Interpretation der Ereignisse auf.

    Wie so oft in der Berichterstattung in Bezug auf China werden die Interessen westlicher Eliten bedient, die in China einen global agierenden Konkurrenten sehen, der Kapitalismus ohne demokratische Beschränkungen betreibt – wovon Kapitalisten in Deutschland nur träumen können.

    China nutzt zudem noch den „Sozialismus“ als offizielles Entwicklungsprogramm unter Führung der Kommunistischen Partei. Das hilft KritikerInnen, Chinas Regierung und die ArbeiterInnenbewegung gleichzeitig zu verleumden. Es wird zweifellos westliche Propaganda betrieben, wenn es um 1989 geht. Machen wir einen kurzen Realitätsabgleich:

    Was die Toten angeht: Es gibt jährliche Proteste der „Mütter vom Tian‘anmen“, die an ihre getöteten Kinder erinnern. Es sind am 4. Juni 1989 definitiv dutzende junge Menschen getötet worden. Unter welchen Umständen sie gestorben sind, wird in verschiedenen Büchern seit 30 Jahren immer wieder nacherzählt. Die Gewalt war zudem nicht einseitig. Es gibt Aufnahmen von Barrikaden, Blockaden und brennenden Militärfahrzeugen. Mehrere SoldatInnen sollen getötet worden sein. Aber einzelne Anekdoten und Schätzungen von Augenzeugen sind noch keine gesicherten Zahlen.

    Besonders problematisch sind die Opferzahlen: Die Regierung hüllt sich in Schweigen. Schätzungen von ehemaligen ProtestteilnehmerInnen gehen in die fünfstelligen Zahlen. Beweise gibt es für solch hohe Zahlen jedoch nicht. Woher auch, wenn der Staat keine Statistiken herausgibt? Es könnten mehrere Dutzend, Hunderte oder Tausende gewesen sein, die in und außerhalb der Hauptstadt getötet wurden. All das bleibt jedoch im Reich der Spekulation.

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    Ein weiteres Problem, das uns hadern lassen sollte, ist die politische Einschätzung der Proteste.

    Es war keine einheitliche Bewegung. Innerhalb der Protestbewegung gab es verschiedenste Interessen. Allein schon die Interessen der ArbeiterInnen unterschieden sich von denen der führenden StudentInnen, die lange nichts mit den ArbeiterInnen zu tun haben wollten. Die Studierenden machten sich Sorgen über Karriereoptionen. Zudem waren sie überheblich im Umgang mit der Regierung, die wochenlang einen Kompromiss suchte. Dies mischte sich mit einem naiven Optimismus, was den Erfolg ihrer Proteste anging.

    Protestierende ArbeiterInnen hingegen wollten gegen den Abbau sozialer Sicherungssysteme und garantierter Rechte sowie gegen die Teuerungen von Waren Widerstand leisten. Einige von ihnen gründeten im Laufe der Proteste eine unabhängige Gewerkschaft. Auch protestierten Bauern und Bäuerinnen in Pekings Umland – zumindest teilweise im Sinne der Regierung. Zudem gab es verschiedene politische Ansichten in der Bewegung, die von pro-amerikanisch bis hin zu revolutionär und kommunistisch reichten.

    Die Bewegung stellte sich für die Regierung als Umsturzversuch dar. Die Forderungen der Studierenden wurden nach und nach politischer. Erst wollte man nur gegen Korruption und Vetternwirtschaft vorgehen. Dann wurde der Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit und Demokratie verlagert. Letztlich wollten führende Köpfe der studentischen Protestbewegung einen gewaltsamen Umsturz.

    Chai Ling, eine der radikalsten Studentinnen auf dem Tian’anmen-Platz, erklärte eine Woche zuvor sogar, dass sie sich insgeheim eine blutige Eskalation wünschte: „Ich bin sehr traurig, weil ich [den anderen StudentInnen] nicht sagen kann, dass wir in Wirklichkeit auf ein Blutvergießen hoffen, auf den Moment, in dem die Regierung letztlich keine andere Wahl mehr haben wird, als ihre eigenen BürgerInnen kurzerhand zu schlachten.“ Dies sollte landesweite Empörung auslösen und einen Umsturz einleiten.

    Der Geduldsfaden der Regierungspartei war zerrissen. Man stelle sich vor, vor dem Bundestag würden sich wochenlang tausende DemonstrantInnen versammeln, die einen Rücktritt der Regierung, einen Staatsstreich und sogar Systemwechsel fordern und zu keinem Kompromiss bereit sind. Wie würde da die Polizei reagieren, die mit den neuen Polizeigesetzen zu allem Möglichen befugt ist? Und käme da nicht sogar der Einsatz der Bundeswehr im Inneren in Frage? Das Handeln der chinesischen Regierung war so gesehen nicht außergewöhnlich brutal. Westliche Regierungen handeln ständig so im Interesse der Profitmacherei.

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    Das Massaker von 1989 diente dem chinesischen Kapitalismus. Mit dem militärischen Einsatz der “Volksbefreiungsarmee” in Peking am 4. Juni wurde weder das Volk befreit noch der Kommunismus entlarvt. Im Gegenteil. Die Armee sicherte den korrupten Bürokraten in Peking Macht und Reichtum. Die Regierungspartei hatte mit dem „Tian’anmen Massaker“ einen weiteren Beweis für die Bosheit kapitalistischer Politik erbracht.

    Alle Macht den Räten!

    Wenn die Bevölkerung gegen ihre Regierung protestiert und ein Umsturz droht, muss das nichts Schlechtes sein. „Rebellion ist gerechtfertigt!“, betonte der ehemalige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Zedong, immer gerne. Als er in den 60er Jahren versuchte, in China eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, forderte er die Bevölkerung sogar zum Umsturz auf!

    Der Revolutionsversuch von oben ging damals schief und kapitalistische Reformer setzten sich durch, die den Sozialismus als Selbstbefreiung der Bevölkerung verwarfen. 1989 trafen sie auf den massiven Widerstand in der Bevölkerung.

    Die Proteste von 1989 zeigen uns, dass es nicht reicht, wenn sich eine regierende Partei sozialistisch oder kommunistisch nennt. Wenn sie aus korrupten Bürokraten besteht, die alle Macht in ihren Händen konzentrieren, ist Rebellion früher oder später unvermeidlich. Das trifft auf China ebenso wie auf Deutschland, Griechenland oder Frankreich zu.

    Die Macht darf nicht abgehobenen Stellvertretern gehören, sondern gehört in die Hände der Bevölkerung selbst. Es gibt eine Alternative zu westlicher Scheindemokratie und chinesischem Staatskapitalismus. „Alle Macht den Räten!“ ist bis heute eine Forderung, die seit über 100 Jahren aktuell geblieben ist. Sie sollte unsere Perspektive für eine demokratischere Zukunft sein – ob in Ost oder West.

    • Perspektive-Korrespondent, Chinaforscher, Filmliebhaber, Kampfsportler

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