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Freitag, April 26, 2024
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    Die Hongkonger: Unzufrieden, misstrauisch – und revolutionär?

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    Die Lokalregierung Hongkongs verliert seit Monaten an Zuspruch, Straßenproteste gegen sie gehen weiter und sogar der halbe Parlamentarismus Hongkongs hilft der Regierungspartei nicht. Die Bezirkswahlen haben den „pro-demokratischen“ Parteien einen Sieg gebracht. Sind die Hongkonger nicht nur unzufrieden und misstrauisch, sondern sogar revolutionär? – Ein Kommentar von Pa Shan.

    Die Unzufriedenheit der Hongkonger

    Die Unzufriedenheit in Hongkong ist in der Tat massiv angewachsen. Umfrageergebnisse in Bezug auf die Zufriedenheit mit der Regierung belegen das. Diese fielen für die Regierung in den letzten Monaten immer schlechter aus.

    Auf die Frage „Sind Sie insgesamt zufrieden mit der Leistung der Regierung des Hongkonger Sonderverwaltungsgebiets?“ antworteten im Oktober 2019 satte 66,1 Prozent der Befragten mit „unzufrieden“, 10,4 Prozent mit „zufrieden“ und 22,7 Prozent mit „teils-teils“. Noch ein Jahr zuvor war die Stimmung viel ausgewogener. Damals waren nur 33 Prozent unzufrieden, 29,5 Prozent zufrieden und 36,4 Prozent waren teils zufrieden, teils unzufrieden.

    Auch zeigten 55,7 Prozent der Befragten vom Oktober 2019 kein Vertrauen in die Lokalregierung Hongkongs und 58,4 Prozent kein Vertrauen in die Zentralregierung der Volksrepublik China, während nur 16 und 14 Prozent diesen trauten. 27 und 23 Prozent hatten dabei gemischte Gefühle.

    Auch die Beurteilung der lokalen Regierungschefin Carrie Lam wird stetig negativer, sodass Lam 2019 zur unbeliebtesten Regierungschefin seit 1997 geworden ist.

    Die Bezirkswahlen vom 24. November

    Die Bezirkswahlen am letzten Wochenende weisen ebenfalls in diese Richtung. 2,94 Millionen Menschen nahmen an den Wahlen teil. 347 der insgesamt 452 Sitze in den Bezirksräten gingen an das Oppositionslager der Demokratischen Partei, während nur 60 Sitze an die Regierungspartei von Carrie Lam, die Demokratische Allianz für Besserung und Fortschritt Hongkongs, gingen. Die restlichen 45 Sitze wurden von „unabhängigen Kandidaten“ besetzt.

    Damit wurde Carrie Lams Partei merklich geschwächt. Denn von den 18 Bezirksräten sind nun 17 mehrheitlich in der Hand der Demokratischen Partei Hongkongs. Die Bezirksräte sind zwar weitgehend machtlos, da sie kaum Befugnisse haben und keine Gesetze erlassen können. Aber sie haben Geld- und Propagandamittel zur Verfügung und in 17 Bezirksräten wird nun jahrelang Propaganda für die Demokratische Partei gemacht werden. Außerdem schicken die Bezirksräte einen kleinen Teil der Ständevertreter Hongkongs in das elitäre Gremium, das die Regierungschefin bestimmt.

    Viele Kommentatoren betrachten diesen Wahlausgang zurecht als Strafe für Carrie Lam und Peking. Die Behauptung des Regierungslagers, eine schweigende Mehrheit sei für die Regierung und gegen die DemonstrantInnen auf der Straße, dürfte damit vom Tisch sein. Die chinesische Volkszeitung hat bezeichnenderweise von den Wahlen am Sonntag, aber nicht von den bemerkenswerten Wahlergebnissen berichtet, über die sich die chinesische Zentralregierung ärgern dürfte.

    Die gehässigen Kommentare der reaktionärsten Zeitungen Deutschlands triefen hingegen bereits von wahnhaftem Peking-Bashing und primitivem Antikommunismus. Die Liberalen erhoffen sich wiederum einen Kompromiss zwischen dem sogenannten „Establishment“ und den „Demokraten“ Hongkongs.

    Was diese Propagandisten übersehen, ist aber, dass „das Establishment“ in Hongkong nicht nur aus dem pro-chinesischen Lager besteht, sondern das „pro-demokratische Lager“ der Demokratischen Partei einschließt. Alle großen Parteien in Hongkong bilden zusammen den offiziellen, politisch legitimierten Teil des Establishments. Sie sind Instrumente im Klassenkampf der reichen Hongkonger gegen die armen und arbeitenden Hongkonger. Damit sind alle “offiziellen” politischen Lager in Hongkong korrupt.

    Rebellion in Hongkong: Gerechtfertigt oder gefährlich?

    Die Gewaltspirale und die wahren Ansichten der Hongkonger

    Seit Hongkong keine britische Kolonie mehr ist, hat es immer wieder starke Stimmungsschwankungen und politischen Wandel dieser Art gegeben. Aber die Unzufriedenheit der Hongkonger ist heute kein abstraktes Gefühl mehr, sondern bricht sich Bahn.

    Ein Teil der Unzufriedenen leistet sich seit Monaten Straßenschlachten mit der Polizei. Diese wird immer wieder mit Molotow-Cocktails beworfen. Regierungsgebäude wurden gestürmt und beschädigt. Indem friedliche PassantInnen mit Gewalt von ihrer Arbeit abgehalten oder brutal attackiert wurden, verlor die Protestbewegung viel Rückhalt in der Bevölkerung.

    Indem die Minderheit der gewalttätigen Protestierenden sich gegen die Bevölkerung selbst wendet, schadet sie ihrem eigenen Anliegen. Unter anderem wurde am 11. November ein älterer Mann, der die DemonstrantInnen kritisiert hatte, auf offener Straße angezündet Am selben Tag wurde ein Demonstrant von einem Polizisten aus nächster Nähe angeschossen.

    Es kommt also zu einer Gewaltspirale. Wie beurteilen das die Hongkonger? Sind diejenigen, die mit der Lokalregierung „sehr unzufrieden“ sind, zugleich für eine Eskalation?

    Das Centre for Communication and Public Opinion an der Chinesischen Universität Hongkongs hat die Hongkonger befragt. Im August, September und Oktober fanden knapp 40 Prozent der Befragten, dass die Protestierenden es mit der Gewalt übertrieben hätten.

    Im gleichen Zeitraum fanden aber knapp 70 Prozent, dass die Polizei zu gewalttätig war. 80 Prozent haben im August und September zugestimmt, dass es einer unabhängigen Kommission bedürfe, die die Polizeigewalt untersucht. Im Oktober waren es sogar 88 Prozent.

    Gute Vermummung, böse Vermummung

    Befragt über ihr Vertrauen in Polizei und Regierung, antworteten die Befragten eindeutig. Im August und Oktober gab fast die Hälfte der Befragten der Polizei und der Regierung 0 von 10 Punkten. Im Schnitt erhielten Polizei und Regierung nicht einmal 3 von 10 Vertrauenspunkten.

    75, 74 und 81 Prozent gaben in den drei Monaten an, dass sie politische Reformen, die demokratische Wahl des Legislativrats und der Regierungsschefin gutheißen würden. Im Oktober haben 59 Prozent der Befragten Verständnis dafür geäußert, dass die Protestierenden zu radikaleren Mitteln greifen, wenn Massenproteste nicht ausreichen. Mehr als die Hälfte dieser verständnisvollen Befragten gab Aktionen und Taktiken an, die sie für unangemessen hielten.

    Was wollen die Hongkonger also?

    Niemand kann ernsthaft sagen, was die Hongkonger „wirklich“ wollen. Es gibt keine Umfragen, die alle Hongkonger erfassen. Es gibt auch keine Umfragen, die genau genug nachfragen. Aber die obigen Daten zeigen uns, dass es Trends gibt. Der Trend geht eindeutig dahin, dass das Vertrauen, das Verständnis, die Unterstützung und die Toleranz für Regierung und Polizei schwinden.

    Zu den fünf Kernforderungen der Protestbewegung ist neuerdings eine sechste Kernforderung hinzugekommen: die komplette Auflösung der Hongkonger Polizei. Und die Bevölkerung hat sicherlich mehr Verständnis dafür entwickelt, obwohl sie nach wie vor Bürgerwehren innerhalb der Protestbewegung ablehnt.

    Damit hat die Protestbewegung einen gehörigen Schritt nach vorn gemacht. Diese Forderung unterscheidet sich von den anderen fünf Kernforderungen darin, dass sie weit radikaler ist. Die Polizei abzuschaffen geht nicht, ohne das ganze Establishment der Hongkonger Kapitalisten zu zerschlagen. Die Hongkonger Radikalen diskutieren daher darüber, wie dies zu erzielen wäre.

    Gleichzeitig feiern die Protestierenden den Sieg der Demokratischen Partei in den Bezirkswahlen, also den Sieg eines Teils der Kapitalisten und ihrer politischen Vertreter. Obwohl diese sechste Forderung radikal klingen mag, ist sie überaus problematisch, wenn sie ohne ein soziales Programm bleibt.

    Eine sinnvolle Forderung, die bei den Protesten in Hongkong bemerkenswerterweise fehlt, ist die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum, nach einem menschenwürdigen Mindestlohn und einer Mindestrente. Dass die Protestierenden auf den Straßen Hongkongs diese Forderungen nicht in das Zentrum ihrer Bewegung stellen, zeigt uns, wo die Grenzen dieser Bewegung sind.

    Diese Bewegung dreht sich nicht um die einfachen Menschen und ihre absolut berechtigten Anliegen. Sie mobilisiert die ärmsten und am meisten ausgebeuteten Teile der Bevölkerung kaum und ignoriert ihre drängendsten Anliegen weitgehend. Und sie wird von den Privilegierten angeführt, von wohlhabenden Studierenden, Anwälten, Ärzten und Politikern verschiedener Parteien, die zudem Illusionen in die Demokratische Partei der Kapitalisten schüren.

    Ohne ein soziales Programm wird die Hongkonger Protestbewegung in die Sackgasse führen. Sie muss über die Scheinalternative zwischen dem Peking-Lager und dem „pro-demokratischen“ Lager hinausgehen.

    • Perspektive-Korrespondent, Chinaforscher, Filmliebhaber, Kampfsportler

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