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Samstag, April 20, 2024
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    Nachschlag zur EM: Ein Turnier der Schande

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    Die vergangene Fußball-Europameisterschaft gilt vielen Beobachter:innen als politischste Sportveranstaltung der jüngeren Geschichte. Und fürwahr: die „Regenbogen-Auseinandersetzungen“, die totale Verwertungslogik der UEFA auf Kosten von Menschenleben oder die Thematisierung von Rassismus und Homophobie in Sport und Gesellschaft haben wichtige Debatten in den Vordergrund gehoben. Dennoch war diese EM ein Turnier der Schande, angefangen bei seiner Austragung und beendet mit den rassistischen Gewaltexzessen nach dem Finale in Wembley. – Ein Kommentar von Emanuel Checkerdemian

    Skandale über Skandale

    Als der italienische Mannschaftskapitän, Giorgio Chiellini, am Sonntag in der Nacht den silbernen Pokal der UEFA-Europameisterschaft in den Londoner Himmel reckte, setzte er den vermeintlichen Schlusspunkt unter eine EM, die polarisiert hat wie selten ein Fußballturnier der vergangenen Jahre. Sportlich verdient hatte sich die „Squadra Azzura“ zur Fußball-Königin Europas gekürt, jedoch sind diese sportlichen Aspekte weit in den Hintergrund gerückt. Vom Auftaktspiel bis zum bitteren Ende. Denn schon bevor der erste Pfiff ertönte, kam es zu Debatten um die Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens während einer globalen Pandemie.

    Verteilt über den ganzen Kontinent sorgte die Austragung des Turniers dann letztlich auch für die befürchtete massive Beförderung der Ausbreitung von Covid 19. Allein vom Spiel England-Schottland im Wembley-Stadion kehrten rund 2.000 Schott:innen infiziert zurück. Die in Großbritannien grassierende Delta-Variante des Virus ließ die UEFA als austragende Organisation auch nicht davor zurückschrecken, die Regierung in London unter Druck zu setzen, weitere Öffnungen der Stadien zu veranlassen. Wohl auch, weil man auf die Austragung der WM 2030 spekuliert, ist man diesen Forderungen nachgekommen.

    Im Stadion, wie auch in der ganzen Stadt, tummelten sich zahllose Menschen mit geringen Maskenquoten und ohne wirklichen Abstand. Ähnlich sahen auch die Spiele in Budapest aus: Bei 100%iger Auslastung des Stadions waren jegliche Corona-Maßnahmen obsolet. Auch an den anderen Austragungsorten waren Maskenpflicht etc. nur schwierig durchzusetzen, wenngleich es hier nicht ganz so offensichtlich wie in London und Budapest wurde. Darüber hinaus verschliss die Europameisterschaft Unmengen an (medizinischen) Ressourcen, die im Kampf gegen das Virus anderswo dringender gebraucht worden wären. Zahllose Ärzt:innen und medizinisches Personal, Infrastruktur und Kapital wurden zum Zweck der Gewinnmaximierung und gegen jede Vernunft, die Pandemie bremsen zu müssen, verbrannt. Ähnliches erwartet uns auch bei den nun kommenden Olympischen Sommerspielen in Tokio.

    Dass der UEFA bei der Durchsetzung ihrer Kapital- und Vermarktungsinteressen noch jedes Mittel recht ist, wurde dann am ersten Spieltag des Turniers vor laufenden Kameras offenbart. Kurz nachdem der dänische Nationalspieler Christian Eriksen auf dem Spielfeld nach einem Herzinfarkt zusammenbrach, Ärzt:innen auf dem Platz und im Krankenhaus um sein Leben kämpften, setzte der europäische Fußballverband die beiden Mannschaften so stark unter Druck, das Spiel fortzuführen, dass diese nachgaben. Was folgte, war ein Fußballspiel, dessen Austragung wohl zu den größten Skandalen in der gesamten Geschichte des Sports gehört.

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    Regenbogen und Rassismus

    Diese unstillbare Profitorientierung hat durchaus – soviel muss man dem bürgerlichen Diskurs lassen – für Aufsehen, Kritik und Debatte gesorgt. Vor allem die Auseinandersetzungen um Rassismus und Homophobie, die sich über das gesamte Turnier zogen, dominierten die Diskussionen.

    Schon nach dem ersten Spiel der deutschen Elf sah sich die UEFA veranlasst, Untersuchungen gegen Manuel Neuer und den DFB einzuleiten, weil er eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarben trug – laut dem europäischen Fußballverband eine nicht zulässige politische Äußerung. Erst nach massiver Kritik wurde das Verfahren eingestellt. In der Folge verbot man der Stadt München dennoch, ihr Stadion in Regenbogenfarben leuchten zu lassen, wenn die deutsche Nationalmannschaft auf die ungarische trifft. Dort war erst kurz zuvor ein Gesetz verabschiedet worden, das Informationsrechte für Homo- und Transsexualität weiter einschränkt. Ebenfalls, weil man politische Äußerungen nicht zulassen wollte.

    Doch wo das Geld fließt, lässt man dann doch fünfe gerade sein. So färbten nahezu alle Sponsor:innen ihre Werbebanner in Regenbogenfarben, und selbst die UEFA änderte ihr Design auf den Social Media-Kanälen dahingehend. Erst als es zu den Spielen in Baku und St. Petersburg ging, verbot man den Unternehmen diese Werbung wieder. Grund seien die nationalen Gesetzgebungen, so die UEFA. Nun darf man dem DFB – und auch den zahlreichen Sponsor:innen – deshalb allerdings wirklich keine Vorreiterrolle im Kampf für Diversität im Fußball andichten. Denn wie auch die UEFA schlängelt sich der Deutsche Fußballbund durch seine Kapitalinteressen, nutzt hierzu das pinkwashing je nach Bedarf und steht nun kurz vor dem Abschluss eines Sponsoren-Deals mit Qatar Airways – Staatsunternehmen eines Landes, das Homosexualität immer noch unter Strafe stellt und mit Gefängnis ahndet. Nächstes Jahr trägt Katar die Fußball-Weltmeisterschaft aus.

    Und auch der immer häufiger in verbalen und non-verbalen Ausbrüchen manifestierte Rassismus war ein stetiger Begleiter dieser EM. Während in Ungarn und Russland immer wieder schwarze Spieler beschimpft und verhöhnt wurden, waren bei den Spielen der englischen Mannschaft gellende Pfiffe zu hören, wenn diese sich in Solidarität mit den Black Lives Matters-Protesten hinknieten. Als England – erst zum zweiten Mal in seiner Geschichte in einem großen Finale – dann im Elfmeterschießen verlor, brach sich der ganze Hass und Rassismus freie Bahn. Auf Social Media-Kanälen kam es zu Gewaltaufrufen und Hassnachrichten gegen People of Colour. Graffiti und Street Art, die englische Nationalspieler zeigen, wurden mit rassistischen Parolen beschmiert, Schwarze wurden in Pubs und auf der Straße angespuckt, angegriffen und vertrieben.

    In Anbetracht der internationalen Empörung sah sich der konservative Premierminister Boris Johnson gezwungen zu intervenieren: „Diese Spieler haben es verdient, als Helden gefeiert zu werden, nicht rassistisch beleidigt zu werden.“ Man wolle nun strafrechtlich gegen rassistische Hetzer:innen und Randalierer:innen vorgehen und dabei volle Härte zeigen. Zuvor hatte sich der Premier, gemeinsam mit seinem Kabinett, noch über die Black Lives Matters-Bewegung echauffiert und das Knieen der „Three Lions“ verurteilt.

    Den tatsächlichen Schlusspunkt unter dieses Turnier setzten also nicht Giorgio Chiellini mit „seinem“ Pokal, sondern die englischen Rassist:innen, die den People of Colour eine Schreckensnacht bereitet haben. Zynisch könnte man meinen, dass dies ein runder Abschluss eines Turniers gewesen ist, das geprägt war von Ignoranz und Diskriminierung, von Profitgier und Erpressung. Jedoch würde das die Brisanz des Themas negieren: Rassismus und Homophobie sind Phänomene, die mit dem „diversity capitalism“ der vergangenen Jahre nicht ab-, sondern zugenommen haben. Dass sich dies in den Stadien abbildet, gerade kurz nachdem sie wieder geöffnet sind, ist der UEFA nicht vorzuwerfen. Dass der europäische Fußballverband allerdings den Rahmen für dieses Skandalturnier geformt hat, mit homophoben und rassistischen Staaten gemeinsame Sache macht, um noch den letzten Cent aus dem Sport zu quetschen und somit selbst einen Grundstein für diese Exzesse legt, gibt wenig Hoffnung auf Verbesserungen. Vor allem mit Hinblick auf die kommende WM in Katar – dann mit der FIFA in der Hauptverantwortung.

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