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Mittwoch, Mai 8, 2024
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    EZB-Zinserhöhung: Anfang vom Ende des Euro?

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    Die Europäische Zentralbank erhöht zum ersten Mal seit 2011 die Zinsen. Mit der Erhöhung des Leitzinses auf 0,5 Prozent leitet sie fürs erste auch das Ende der negativen Zinsen auf Spareinlagen ein. Doch der Schritt wirkt eher verzweifelt. Denn im Gegenzug könnte hoch verschuldeten Staaten wie Italien oder Griechenland nun die Pleite drohen. Damit stellt sich erneut die Frage, wie lange der Euro als Währung noch aufrechterhalten werden kann – und um welchen Preis? – Ein Kommentar von Thomas Stark.

    Seit Monaten war auf den Schritt gewartet worden, am Donnerstag war es nun so weit: EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat in Frankfurt die erste Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank seit 2011 verkündet.

    Wirtschaftskrise: Kommt der „perfekte Sturm“?

    Was steckt hinter den Leitzinsen?

    Der sogenannte „Leitzins“ – der offiziell den sperrigen Namen „Hauptrefinanzierungsfazilität“ trägt – steigt von 0 Prozent auf 0,5 Prozent. Dabei handelt es sich um den Zinssatz, zu dem sich Banken längerfristig Geld von der EZB leihen können, nämlich mit einer Mindestlaufzeit von einer Woche.

    Dieser Zinssatz hat unmittelbar Auswirkungen darauf, welche Zinsen Geschäftsbanken für Kredite von Unternehmen und Privatpersonen verlangen. Heißt: Wer einen Kredit aufnimmt, um ein Haus zu bauen oder ein Auto zu kaufen, kann in Zukunft mit höheren Kosten für Zinsen rechnen. Und zwar zum ersten Mal seit Jahren: Denn bei 0 Prozent lag der Leitzins schon seit März 2016.

    Ende der negativen Zinsen

    Daneben erhöht die EZB den Zins für Übernachtkredite an Geschäftsbanken von 0,25 auf 0,75 Prozent – hiermit soll vor allem die im Umlauf befindliche Geldmenge gesteuert werden – sowie den Einlagensatz, den Geschäftsbanken bezahlen müssen, wenn sie überschüssiges Geld über Nacht bei der EZB parken. Dieser Zinssatz war seit 2014 sogar negativ, seit 2019 lag er bei minus 0,5 Prozent. Das bedeutet, wenn eine Geschäftsbank es nicht geschafft hatte, ihren Geldbestand über Tag zu verleihen, war dies finanziell nachteilhaft für sie.

    Der negative Einlagenzins war platt gesagt also als Anreiz für Banken gedacht, ihr Geld mit beiden Händen als Kredit hinauszuwerfen und damit die Wirtschaft anzukurbeln. Für Menschen mit Spareinlagen hatte der negative Einlagenzins zur Folge, dass Banken zunehmend „Verwahrentgelte“ für Guthaben verlangt, den Negativzins also faktisch an Kund:innen weitergegeben haben.

    Europäische Zentralbank: Krisenbewältigung als Dauerzustand

    Das ewige Dilemma der EZB

    Auch wenn Christine Lagarde die neue EZB-Politik gewohnt souverän vor der Presse verkaufte, stellt sie eher eine Verzweiflungstat dar als einen smarten Plan. Die Zinserhöhung ist eine Antwort auf die galoppierenden Preisexplosionen in der gesamten Eurozone. Dort lag die offizielle Inflation im Juni 2022 bei historischen 8,6 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.

    Die EZB hat das Auftreten von Preissteigerungen trotz zusammengebrochener weltweiter Lieferketten und der sich anbahnenden Energiekrise aber lange abgestritten, hat viel später reagiert als die amerikanische Notenbank Fed – und die Zinswende in Europa fällt deutlich zaghafter aus als in den USA: Dort liegen die Leitzinsen inzwischen bei 1,5 bis 1,75 Prozent.

    Der Grund hierfür ist, dass die Zentralbank der Eurozone eine im Prinzip unmögliche Aufgabe zu bewältigen hat. Zahlreiche Mitgliedsstaaten des Euroraums sind nämlich spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 und der sich anschließenden europäischen Staatsschuldenkrise 2011 so hoch verschuldet, dass sie bei steigenden Zinsen konkret vom Staatsbankrott bedroht sind. Dies gilt nach wie vor für Griechenland, dessen Staatsverschuldung bei 193 Prozent der eigenen Wirtschaftsleistung liegt. Vor allem aber gilt es für Italien, das wirtschaftlich drittgrößte Land der Eurozone, dessen Staatsverschuldung 150 Prozent der eigenen Wirtschaftsleistung beträgt.

    Südeuropas Schulden sind Deutschlands Extraprofite

    Dass die Staatsverschuldung in vielen südeuropäischen Ländern heute im Grunde untragbar hoch ist, entspringt aber aus der Konstruktion der Eurozone, war gerade von Deutschland politisch gewollt und hat zu enormen Extraprofiten insbesondere für das deutsche Finanzkapital geführt. Zu Beginn der Einführung des Euro konnten sich Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und andere Staaten deutlich günstiger verschulden als zuvor in ihren eigenen Landeswährungen.

    Dies hat aber dazu geführt, dass gerade sehr viel deutsches (sowie französisches, niederländisches und anderes) Kapital in Form von Krediten in diese Länder geflossen ist. Davon profitierte auch die deutsche Industrie, denn von den Krediten wurden wiederum sehr viele deutsche Waren gekauft. In der Folge ist seit der Einführung des Euro gesellschaftlicher Reichtum in Billionenhöhe aus Südeuropa nach Norden und insbesondere nach Deutschland abgewandert.

    Seinen Höhepunkt erreichte diese faktische Ausplünderung des europäischen Südens während der Staatsschuldenkrise 2011. Damals drückten Deutschland und andere nordeuropäische Imperialisten den Krisenstaaten, vor allem Griechenland, Sparprogramme auf, mit denen die Wirtschaft dieser Länder den Interessen des eigenen Kapitals angepasst wurde, etwa durch die massive Kürzung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen und der Zerschlagung weiter Teile des Öffentlichen Dienstes. Zur Durchsetzung dieser Sparprogramme wurde die berüchtigte „Troika“ aus EZB, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) eingespannt.

    Deutschlands Aufstieg kam mit Europas Abstieg

    Das Ergebnis dieser Politik war, dass Deutschland auf Kosten seiner Nachbarstaaten zur unumstrittenen Führungsmacht der EU und der Eurozone geworden ist. Insgesamt ist die europäische Wirtschaft aber durch diese neokoloniale Politik in eine solche Krise geraten, dass die Gesamt-EU bis 2017 brauchte, um wieder das Niveau der Industrieproduktion von 2008 zu erreichen. Der Aufstieg des deutschen Imperialismus innerhalb Europas war begleitet vom Abstieg aller europäischen Länder innerhalb des Weltkapitalismus.

    Und jetzt, inmitten der Nachwirkungen der Wirtschaftskrise von 2018/19 und der Corona-Pandemie sowie inmitten einer globalen Energiekrise, geht diese Entwicklung weiter. Die EZB hat kaum Spielräume, der Inflation mit geldpolitischen Mitteln entgegenzuwirken, weil sie sonst den Bankrott großer Staaten wie Italien und damit den Zerfall des Euro riskiert. Der behelfsmäßige nächste Schritt in diesem Dilemma klingt verdächtig nach 2011. Mit dem „Transmission Protection Instrument“ (TPI) will die EZB in Zukunft gezielt Anleihen einzelner Länder kaufen. Als Bedingung müssten diese sich jedoch an die finanzpolitischen Vorgaben der EU halten. Es stellt sich also die Frage, ob jetzt eine neue Welle von Spardiktaten auf Italien, Griechenland und andere Staaten zukommt.

    In diesem Fall wären Massenproteste und Aufstände in weiten Teilen Europas vorprogrammiert – und das Ende des Euro oder gar der Europäischen Union könnte auf diesem Wege bevorstehen. Die Widersprüche der Eurozone sind nicht lösbar. Aufgabe der EZB ist und bleibt deshalb das andauernde Krisenmanagement. Und egal was sie tut, bezahlen müssen am Ende die europäischen Arbeiter:innen, ob in Form von explodierenden Warenpreisen oder neuen Spardiktaten.

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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