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Freitag, April 19, 2024
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    Streiks im öffentlichen Rundfunk im Angesicht von Ausbeutung und Korruption

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    Seit den Enthüllungen um Vetternwirtschaft und die Veruntreuung von Geldern in der RBB-Intendanz und weiteren Fällen wie z.B. beim NDR tobt eine Welle der Entrüstung über solcherlei Machtmissbrauch im staatlichen Rundfunk. Dabei wird nur selten über die Ausbeutung der „freien“ Mitarbeiter:innen und das Outsourcing von Arbeiter:innen berichtet. – Anlässlich des ARD-weiten Streiks der Rundfunk-Angestellten am 9. November äußert sich ein freier Mitarbeiter gegenüber Perspektive Online

    Am 9. November 2022 streikten mehr als 2.000 Beschäftigte gegen die festgefahrenen Verhandlungen in den ARD-Rundfunkanstalten und beim Deutschlandradio. In den Streiks forderten die Arbeiter:innen aller in Verhandlung stehenden Rundfunksender (SWR, NDR und WDR) gemeinsam durchschnittlich 6% tarifliche Lohnerhöhung – identisch zu den Forderungen von ver.di. Sie sollen für die sogenannten „freien Mitarbeiter“ und Festangestellten gelten und eine Laufzeit von zwölf Monaten haben.

    Am 10. November verhandelte dann die Gewerkschaft mit SWR und NDR, am 14. November stehen die Verhandlungen mit dem WDR an. Die bisherigen Tarifangebote der ARD, also dem Zusammenschluss aller Landesrundfunkanstalten, liegen bei höchstens 2,8 Prozent Lohnerhöhung. Diese kämen nach neun Monaten ohne Erhöhung und hätten eine Laufzeit von 24 Monaten. „Die ARD-Verhandler*innen wären gut beraten, sich auf kurze Laufzeiten und Tariferhöhungen, die die gestiegenen Lebenshaltungskosten ausgleichen können, einzulassen“, so das für Medien zuständige ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christoph Schmitz.

    Der Streiktag habe gezeigt, dass die „Geschlossenheit der Beschäftigten groß“ und der Widerstand gegen „viel zu mickrige Tarifangebote“ stabil sei. Die Sender hatten zuvor Einmal-Zahlungen in Höhe von 3.000 Euro angeboten. Diese könnten die Realeinkommensverluste angesichts der galoppierenden, bereits zweistelligen Inflation jedoch langfristig nicht mehr ausgleichen, so Schmitz. Im Verlauf des Streiks am 9. November gab es umfangreiche Programmänderungen, eingeschränkte Sendungen und Ausfälle bei ARD-Sendern und im Deutschlandradio.

    Korruption erster Klasse: Fälle von Machtmissbrauch im ÖRR

    Zuletzt war deutschlandweit von einer “Krise” des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) zu lesen, womit in erster Linie die Korruption in hohen Positionen der Landesrundfunkanstalten gemeint war. In diesem Zusammenhang wird gegen die mittlerweile zurückgetretene und entlassene RBB-Intendantin und kurzzeitige ARD-Vorsitzende Patricia Schlesinger wegen des Verdachts der Untreue und Vorteilsnahme ermittelt.

    Sie soll in ihrer Amtszeit nebst teuren Geschäftsessen und privat genutztem Dienstwagen vor allem durch Mehrfachabrechnungen, Bonuszahlungen und einem Jahresgehalt von über 300.000 Euro finanziell von ihrer Position profitiert haben.

    Luxusessen und Korruption bei ARD & Co. – was wir wirklich aus der Schlesinger-Affäre lernen können

    Enthüllungen in verschiedenen Landesrundfunkanstalten weisen auf weitere Fälle von Machtmissbrauch, z.B. in Form von Vetternwirtschaft, hin. So soll die Direktorin des NDR-Landesfunkhauses Hamburg, Sabine Rossbach, die PR-Firma ihrer älteren Tochter und ihren Mann bei der Berichterstattung und der Vergabe von Aufträgen bevorteilt haben. Außerdem erhielt ihre jüngere Tochter vor einigen Jahren eine der seltenen Festanstellungen beim NDR.

    Ausbeutung “freier” Arbeiter:innen und Outsourcing 

    Gegenüber Perspektive berichtet der freie Angestellte einer Landesrundfunkanstalt, Siegfried G., der wegen seines unsicheren Arbeitsverhältnisss lieber anonym bleiben will, wie viele verschiedene Formen der Ausbeutung es beim ÖRR tatsächlich gibt:

    Zunächst einmal würden sich reale Arbeitszeit und tatsächlich bezahlte Arbeitszeit oftmals unterschieden. So würden freie Mitarbeiter:innen nur für Beiträge entlohnt, die letztlich veröffentlicht werden. Dann sei es “schwierig, (sich) Vorrecherchen ohne konkretes Ergebnis als Arbeitszeit anzurechnen zu lassen”.

    Das andere Hauptproblem liege in der Vorgabe der “absoluten” Arbeitstage. Diese würden von der Chefetage begrenzt, denn wenn ein freier Angestellter über eine bestimmte Schwelle hinaus offiziell für eine Rundfunkanstalt tätig wäre, könne sich dieser “eine Festanstellung einklagen”, berichtet Siegfried G.. Ihm missfällt dabei, dass er oft in seiner Freizeit angerufen werde, beispielsweise um seinem Chef oder anderen “bei der Recherche zu helfen”.

    Für Studierende seien die paar Arbeitstage (“gerade sechs im Monat”) gut zu machen und gutes Geld verdiene er auch. Um eine Familie zu ernähren, reiche diese Anstellung jedoch nicht, vermutet G.. So seien die freien Mitarbeiter:innen unterschiedlich stark betroffen, bemerkt G..

    Neben den freien Angestellten gebe es auch Mischkonzepte wie “feste-freie” Mitarbeiter. Er kenne einen Familienvater, der 15 Jahre in einem solchen Arbeitsverhältnis bei den Öffentlich-Rechtlichen angestellt war. Dieser hätte kaum eine Sicherheit gehabt, ob er seine Arbeit im Folgejahr behalten würde, und habe sich von Jahr zu Jahr durchhangeln müssen.

    Das Outsourcing von Arbeiter:innen an private Unternehmen stelle “eine weitere Form der Ausbeutung” dar. Die Landesrundfunkanstalten sparten dadurch, dass sie die Arbeit hinter der Kamera und das Schneiden der Videos nicht nach Tarif entgelten müssten, “eine Menge Geld”, sagt G..

    Als ein sogenannter “Cutter” sich wegen dieser prekären Arbeitsverhältnisse an einen Anwalt wendet, bestätigt ihm dieser gute Chancen, den Fall zu gewinnen, erzählt Siegfried G.. Daraufhin wurde der Cutter von der betreffenden Rundfunkanstalt kurzerhand eingestellt – G. vermutet, um  dadurch ein richterliches Urteil und damit einen verbindlichen Präzedenzfall zu verhindern.

    Festanstellungen würden im Gegensatz dazu “immer seltener”, meint G. Er sieht darin den Versuch, durch diese Art “Klassensystem” die Belegschaft zu spalten. Als herauskam, was im NDR los sei, habe ihn das aufgeregt. Angesichts des Wissens um Vetternwirtschaft und die Gehälter in der Chefetage seien diese Zustände für die Arbeiter:innen hier “peinlich”, zumal der ÖRR sich oft als “Moralapostel” aufspiele.

    “Neoliberal” und “marktwirtschaftlich-kapitalistisch” sei das. Er begrüßt daher auch den Streik der Angestellten. Eine Email von ver.di habe er jedoch nicht erhalten. Wenn es nach ihm ginge, wäre er ohnehin eher für revolutionäre Veränderungen als für Reformen.

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