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Dienstag, April 30, 2024
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    Nach PKW-Angriff auf Antifaschist:innen in Henstedt-Ulzburg – Protest zum Prozessauftakt

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    Melvin S. Ist angeklagt, vor drei Jahren ein Fahrzeug auf eine Gruppe Antifaschist:innen gesteuert zu haben. Zum Prozessauftakt am Landgericht Kiel organisierte das Bündnis “Tatort Henstedt-Ulzburg” Protest. – Ein Bericht von Esther Zaim.

    Am gestrigen Samstag, den 24.06. formierte sich mittags am Henstedt-Ulzburger Bahnhof eine breite antifaschistische Demonstration mit etwa 250 Teilnehmenden. Organisiert wurde sie von verschiedenen linken Gruppen wie dem Bündnis “Tatort Henstedt-Ulzburg”, “Norderstedt ist weltoffen”, dem Hamburger “Bündnis gegen Rechts”, der “Initiative Segeberg bleibt bunt” und noch weiteren.

    Auf den Transparenten standen Parolen wie „Den rechten Terror stoppen!“ oder „AfD raus aus dem Bürgerhaus!“. Der Anlass war der vor knapp drei Jahren verübte, rassistisch motivierte Anschlag in Henstedt-Ulzburg, bei dem am 17. Oktober 2020 der Rechtsextremist Melvin S. seinen Geländewagen in eine Personengruppe steuerte. Die Angegriffenen waren Teil einer Versammlung, die gegen die stattfindende Parteiveranstaltung der AfD im Bürgerhaus Henstedt-Ulzburg – auch der damalige Bundesvorsitzende der AfD Jörg Meuthen war anwesend – protestierte.

    Bürgerliche Parteien und berichtende Medien bagatellisierten damals die Tat oder schilderten sie als einen Verkehrsunfall ohne politischen Kontext. Dabei sind die Aussagen und Schilderungen der betroffenen Anschlagsopfer eindeutig, und auch der Tathergang und die Umstände belegen präzise die Absicht des Täters. Das desaströse Versagen und Fehlverhalten der anwesenden Polizei, die, anstatt die Betroffenen aus der Gefahrenzone zu bringen und den Täter festzusetzen, einen völlig grundlosen Warnschuss in die Luft abgab, ist bezeichnend für den kriminalisierenden Umgang der Sicherheitsbehörden mit Antifaschist:innen und deren Engagement und Protest gegen rechtsextreme Kräfte.

    Auto-Angriff auf Antifas in Henstedt-Ulzburg: “die Menschen hätten tot sein können”

    Inzwischen wurde die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Kiel gegen den Täter wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr für den 3. Juli 2023 anberaumt.

    Melvin S., der Fahrer des Tatwagens, ist in neonazistischen Strukturen kein Unbekannter, ist aktiv in rechten Milieus und profiliert sich durch seine überzeugte rechtsextreme Gesinnung. Wie zu erwarten, wurde von Seiten der örtlichen, wie auch bundesweiten AfD die Tat heruntergespielt und eine Schuldumkehr des Vorfalls betrieben. Mit Julian Flak – AfD-Abgeordneter des Kreises Segeberg und Träger diverser Ämter auf Kommunalebene in Schleswig-Holstein – hat die AfD im Norden der BRD bereits feste Vernetzungen und kann einen engen Schulterschluss zu neonazistischen Organisationen vorweisen.

    Auch fast drei Jahren nach der Tat leiden die Opfer psychisch wie auch physisch unter den Folgen des rechtsextremen Anschlags. Diese Tat ist bei weitem kein sogenannter Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine lange Reihe rechtsterroristischer Angriffe und Morde, die seit 1990 über 200 Todesopfer forderte und ihre traurige Kontinuität durch das behördliche Versagen und polizeiliche Fehlverhalten bis in die Gegenwart fortsetzt. Das Strafmaß gegen den Rechtextremisten Melvin S. in der nun übernächste Woche beginnenden Gerichtsverhandlung wird mit hoher Anspannung erwartet.

    Denn während antifaschistische und klimagerechtigkeitsbewegte Aktivist:innen die volle Härte der deutschen Justiz und lange Haftstrafen auferlegt bekommen, kommen rechtsextreme Täter:innen meist mit milden Urteilen davon. Militante Neonazis, die bewusst und gezielt Menschen in Lebensgefahr bringen, ihnen körperliche Gewalt antun oder sie gar töten, werden durch den Rechtsstaat immer noch geschützt, die Opfer rechten Terrors hingegen im Stich gelassen.

    Demonstrant:innen kritisieren Klassenjustiz

    Ein Beispiel derartig skandalöser Rechtsprechung ist die Verurteilung von zwei jungen Neonazis im Rahmen des rechtsextremen Anschlags auf zwei Journalisten vom 29. April 2018 im thüringischen Fretterode.

    Damals recherchierten und fotografierten die beiden Journalisten im Landkreis Eichsfeld zu den rechtsextremen Aktivitäten rund um das Anwesen von Thorsten Heise, damaliger Landesvorsitzender der NPD Thüringen mit einschlägigen Kontakten zum NSU und zu bundesweiten Neonazi-Netzwerken. Sie wurden anschließend von den rechtsextremen Tätern Nordulf H. – Sohn von Thorsten Heise – und Gianluca B. einige Kilometer mit dem Auto verfolgt, von der Straße abgedrängt, brutal zusammengeschlagen, mit diversen Waffen attackiert und ihres Foto-Equipments beraubt. Die gefällten Urteile im September 2022 für einen der Neonazis war ein Jahr Haft auf Bewährung, für den anderen das Ableisten von 200 Arbeitsstunden. Die Staatsanwaltschaft und Nebenklage hatten gegen dieses Urteil Revision beantragt.

    Die gestrige Demonstration startete am Bahnhofsplatz von Henstedt-Ulzburg und verlief lautstark durch den Ortskern zum Bürgerhaus, wo regelmäßig Parteiveranstaltungen der AfD stattfinden. In den Redebeiträgen der linken Organisationen ging es unter anderem um die politische Verharmlosung der AfD, um die von der Stadtgemeinde zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten im Bürgerhaus für die AfD  und ihre rechtsextreme Gefolgschaft und um die vielen rassistischen und neofaschistischen Anschläge der jüngsten Vergangenheit. Auch die schwere Traumatisierung der betroffenen Personen rechter Gewalt wurde thematisiert.

    “Rechter Terror hat viele Gesichter”

    So sagte die Rednerin des Bündnisses Tatort Henstedt-Ulzburg: „Der Täter entstammt jener Mitte der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, die rassistische Hetze, Nationalismus, Männlichkeitsgehabe und Hass auf Linke nur allzu oft duldet oder sogar selbst kultiviert…Rechter Terror hat mittlerweile viele Gesichter.“ Das Bündnis rief dazu auf, sich bei Prozessbeginn vor Gericht mit den Betroffenen zu solidarisieren, sie zu unterstützen und zu begleiten. „Niemand wird allein gelassen“ war der gemeinschaftliche Aufruf dazu. Stark kritisiert wurde ebenfalls der politische Rückenwind für die AfD durch die anderen bürgerlichen Parteien, die eine große Mitverantwortung für den parlamentarischen und gesellschaftlichen Einfluss tragen und die rechtsextreme Anhängerschaft der AfD gleichgültig dulden.

    Dem Demozug wurden vereinzelt beleidigende Zwischenrufe von Passant:innen zugerufen wie z.B. „Scheiß Antifas“ oder „Hört auf zu provozieren!“. Nach Aussagen einiger Demoteilnehmer:innen sollen auch Videoaufnahmen der Demonstration durch Rechte gemacht worden sein. Die lokale Polizei hielt sich im Hintergrund und blieb während der Demonstration auf Distanz.

    Es bleibt die geringe Hoffnung, dass unser antifaschistischer Kampf und Gegenprotest nicht wieder eine bittere Bilanz aus der deutschen Justiz und ihrem nachsichtigen und tolerierenden Umgang mit rassistischer und neofaschistischer Gesinnungs- und Gewalttaten ziehen muss.

    „Kein Fußbreit der AfD, kein Fußbreit dem Faschismus. Rechten Terror bekämpfen“ bleibt deshalb der unbeugsame und kämpferische Appell der Demonstration.

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