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Sonntag, April 28, 2024
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    Rekrutierungsoffensive der Bundeswehr – Kommt jetzt die islamische Militärseelsorge?

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    Während das israelische Militär im Gazastreifen bereits mehr als 8.000 Palästinenser:innen getötet hat, steht der deutsche Staat fest an dessen Seite. Trotzdem streben gerade muslimische Verbände hierzulande eine Kooperation mit der Bundeswehr an. Auch wenn Schritte in diese Richtung noch klein sind und wenig in der Öffentlichkeit diskutiert werden, können hier Spaltungslinien und Widersprüche innerhalb eines vermeintlich „homogenen“ Bevölkerungsteils aufgezeigt werden. – Ein Gastkommentar von Ali Saadat.

    Am 04. November wird in Berlin eine Fachtagung mit dem Thema “Islamische Militärseelsorge – Erfahrungen und Perspektiven für Deutschland” abgehalten. Organisiert hat die Tagung der Verein „Islamkolleg Deutschland e.V.” (IKD). Der Verein, der sich auf die Seelsorge und theologisch-praktische Ausbildung konzentriert, stellt im Aufruf zur Veranstaltung fest, dass über „3.000 muslimische Soldatinnen und Soldaten dienen“ würden. Dabei sei zu beklagen, dass es bis dato keine islamische Militärseelsorge gäbe, die „bei seelischen Krisen und religiösen Anliegen unterstützen könnte.“ Deutschland hinke hinterher, da Nachbarländer wie Frankreich, Österreich und die Schweiz in der Hinsicht „viel weiter“ seien.

    Zu Wort kommen werden, neben Vertreter:innen aus dem Verteidigungsministerium, des katholischen Militärbischofsamtes, dem Vorsitzenden des „Zentralrats der Muslime“ (ZMD) und einem Mitglied des Bundestags von den Grünen, auch muslimische Soldaten. Die Erfahrungsberichte eines „Militärimams“ aus Österreich und eines Armeeseelsorgers aus der Schweiz versprechen Einblicke in die Praxis und sollen Impulse zur „institutionellen und politischen Perspektive“, sprich der langfristigen Verankerung der islamischen Militärseelsorge bereitstellen.

    Militarisierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen

    Dieses Projekt, das allem Anschein nach noch in den Kinderschuhen steckt, ist eine Begleiterscheinung der inneren Militarisierung in Deutschland. Marginalisierte Gruppen und Minderheiten sollen in den Militärdienst integriert werden, da die Bundeswehr derzeit dringend mehr “Menschenmaterial” für eventuelle künftige imperialistische Kriege heranschaffen muss. Die Botschaft, die ausgesendet wird, lautet: „Die Bundeswehr ist ein freundlicher Ort für Muslime, da werden sogar ihre spezifischen seelsorgerischen Bedürfnisse geachtet“.

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    Angesichts der jetzigen politischen Lage ist zunächst verwunderlich, dass muslimische Institutionen am Aufbau einer solchen falschen zivilen Fassade mitwirken wollen und das Image der Bundeswehr aufpolieren. Immerhin ist ein relevanter Teil der in Deutschland lebenden Muslim:innen aus Ländern geflohen, die von Kriegen verheert wurden, an denen auch Deutschland aktiv beteiligt war oder seine engsten militärischen und politischen Verbündeten.

    Als Teil der von Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ im Februar 2022 erstarken Nationalismus und Militarismus in Deutschland. Besonders in den frühen 2000er Jahren waren pazifistische Grundeinstellungen in der Bevölkerung und eine kritische Haltung gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr – die unter anderem Hunderttausende gegen den Irakkrieg mobilisieren konnten – lange Zeit Hindernisse für die Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Auch viele Muslim:innen in Deutschland hatten sich damals an den Protesten beteiligt und einen starke Verbundenheit mit der Irakischen Bevölkerung bekundet.

    Seit der russischen Invasion in die Ukraine wird diese Grundskepsis gegen Kriege und Kriegsbeteiligungen Deutschlands zwar immer wieder in Meinungsfragen weiterhin deutlich, aber die Bemühungen der Regierung, die Stimmung in der Bevölkerung zugunsten ihrer Kriegspolitik zu beeinflussen bleiben auch nicht ohne Wirkung. Und auch die Versuche, eine muslimische Seelsorge in der Bundeswehr zu etablieren, sind Teil dieser Anstrengungen.

    In den letzten Jahren ist Deutschland nicht nur zum größten Waffenlieferanten der Ukraine nach den USA geworden, sondern auch im Begriff, wieder militärisch eine zentrale Macht in Europa zu werden. Mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr und dem festen Vorsatz, das NATO-Rüstungsziel von mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr — das entspräche derzeit jährlich ca. 80 Milliarden Euro — für das eigene Militär aufzuwenden, sind die Weichen gestellt und die Folgen unabsehbar.

    Dabei folgt die heutige, von weiten Teilen der Medien unkritisch begleitete historische einmalige Aufrüstungsoffensive keinem friedenspolitischen Impuls, sondern der Normalisierung des Militarismus und imperialistischen Interessen. Sie lässt vor allem die Rüstungsindustrie jubeln. Währenddessen und als Folge von Krieg und Inflation schreitet die systematische Verarmung weiter Teile der Bevölkerung voran. Das Wiedererstarken des deutschen Militarismus geht mit dem Sozialabbau einher. Die Auswirkungen von Krieg, Inflation und Aufrüstung haben wir längst alle zu spüren bekommen.

    Alle Bundeswehrsoldat:innen und auch die Muslim:innen unter ihnen sollten sich vor diesem Hintergrund fragen, ob wirklich ihre „Freiheit“ am Hindukusch verteidigt wurde, wie es der deutsche Kriegsminister Peter Struck 2004 zu Beginn des Afghanistankrieges behauptet hatte.

    Dort hat die Bundeswehr nachweislich Kriegsverbrechen begangen, wie wir spätestens seit dem Fall von Oberst Klein wissen, der 2009 den Luftangriffe in Kundus auf einen fahruntüchtigen Tanklaster befahl,  bei dem weit über 100 Zivilist:innen starben. Klein wurde nie zur Rechenschaft gezogen, sondern sogar befördert. Außerdem war Deutschland mit seiner Militärpräsenz eine Besatzungsmacht im Norden Afghanistans und hielt das Land in einer ökonomischen Abhängigkeit, die bis heute wirtschaftliche Schäden nach sich zieht.

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    Dass ein Projekt wie die islamische Militärseelsorge dennoch von einer Schicht aus Institutionen, Funktionär:innen, Intellektuellen und vermeintliche Vertreter:innen vorangetrieben wird zeigt, dass hier eine Personengruppe entstanden ist, die abgekapselt von den politischen Gefühlen einer breiten Masse der muslimischer Arbeiter:innen in Deutschland zu sein scheint. Diese Funktionärskaste, zu der das IKD und ZMD zählen, hat über Jahre die verlogene „Integration“ in den deutschen Staat gepredigt und sich als legitime Vertretung der Muslim:innen in Deutschland inszeniert. Hier sollte im Zuge des aktuellen Krieges in Palästina offen die Vertrauensfrage gestellt werden und dieser Selbstinszenierung deutlich widersprochen werden.

    In wessen Interesse wird die Integration von Muslim:innen ins deutsche Militär betrieben?

    In Deutschland leben weit über 5 Millionen Muslim:innen, die meisten davon stammen aus der Türkei oder dem arabischen Raum. Unter ihnen ist die Solidarität mit den unterdrückten, mehrheitlich muslimischen Palästinenser:innen nochmal besonders stark, obgleich in der Arbeiter:innenklasse im Allgemeinen die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel durchaus wahrgenommen wird.

    Während also bürgerliche muslimische Vertreter eine Normalisierung und Kooperation mit der Bundeswehr eingehen, treibt der Krieg in Palästina aktuell täglich mehrere tausend Arbeiter:innen in Deutschland auf die Straße – viele von ihnen Muslime. Solidaritätsbekundungen werden dabei mit einer enormen Repression konfrontiert, die Demonstrationsverbote, willkürliche Festnahmen und brutalste Polizeigewalt umfasst. Auch das ist Teil der Militarisierung nach Innen, die der deutsche Staat zurzeit vorantreibt.

    Die Bundesregierung hat Israel die bedingungslose Unterstützung zugesprochen. Dabei bleibt es nicht nur bei Worten. Deutschland hat Israel bereits Kampfdrohnen zur Nutzung überlassen und die Bundeswehr hat Spezialtruppen nach Zypern versetzt, um möglicherweise selbst in Gaza einzugreifen. Es ist abzusehen, dass die zugesicherte Solidarität mit Israel weitere praktische Formen annimmt.

    Alles und jeder in einer Armee ist im Falle eines Falles dem Zweck der Kriegsführung untergeordnet, ob das jetzt der Hundetierarzt, die Panzerfahrerin oder der Seelsorger ist. Auffällig ist, dass ein Großteil der muslimischen Soldat:innen sich in den unteren Rängen der Bundeswehr wiederfindet oder wiederfinden würde. Es ist ein altbekanntes Muster, dass unter den Bedingungen einer inneren Militarisierung rassistisch ausgegrenzte und allgemein proletarische Bevölkerungsteile vermehrt in den imperialistischen Armeen vertreten sind, jedoch in den untersten Rängen ihrer Hierarchie.

    Der „Dienst an der Waffe“ bietet für viele einen vermeintlichen Ausweg aus einer wirtschaftlichen und zum Teil auch ideellen Perspektivlosigkeit. So verwundert es auch nicht, dass auch Ostdeutsche und Russlanddeutsche in den unteren Rängen stark vertreten sind. Diese Menschen sind es, die im Kriegsfall an die Front geschickt werden.

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