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Samstag, April 27, 2024
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    Ein Jahr nach Lützerath: Was bleibt, sind Empörung und Desillusionierung

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    Heute vor einem Jahr ließ der Energiekonzern RWE die letzten Gebäude in Lützerath abreißen. Die kleine Gemeinde in Nordrhein-Westfalen wurde spätestens Anfang 2023 zum Schauplatz des erbitterten Kampfes um Klimagerechtigkeit. Das Dorf ist nun weg, die Verfahren gegen Demonstrierende und Polizist:innen laufen – und das Abbaggern Lützeraths war eigentlich gar nicht notwendig. – Ein Bericht von Konstantin Jung

    Ein Dorf mit bis zuletzt 11 Einwohner:innen sorgte für einen der größten Polizeieinsätze in Nordrhein-Westfalen überhaupt. Doch heute existiert es schon gar nicht mehr: Im Zuge der Erweiterung des Tagebaus Garzweiler II durch die RWE wurden bereits ab 2006 die ersten Bewohner:innen umgesiedelt, um langfristig die sich unter dem Dorf befindliche Braunkohle fördern zu können. Trotz massiver Proteste von Anwohner:innen, Klimaschutzinitiativen und Aktivist:innen fand das Dorf am 19. Januar 2023 sein endgültiges Ende.

    Der ‘Rückbau’ Lützeraths begann im Jahr 2013, erste Bäume im Dorf selbst wurden Ende 2020 gerodet. Auch schon zu dem Zeitpunkt zeigten sich Protestierende empört über das Vorgehen der Polizei im Einsatz. So löste sie mit einem unverhältnismäßig hohen Aufgebot eine Versammlung auf und nahm mehrere Menschen in Gewahrsam.

    Bereits wenige Zeit später griff die Staatsgewalt zu zunehmend repressiveren Maßnahmen. So gab es unter anderem im Sommer 2021 Proteste gegen den Kaufrausch der RWE AG, welche Stück für Stück Kirchen in Lützerath und Umgebung aufkaufte, um sie schließlich zu entwidmen und für den Abriss freizugeben. An dem Widerstand beteiligte sich unter anderem das Bündnis Alle Dörfer bleiben, aber auch christliche Pilger:innen trugen ihren Unmut auf die Straße – ihre Zusammenkunft wurde schließlich von der Polizei gewaltsam aufgelöst, wobei eine teilnehmende Rentnerin ein Loch im Kopf davon trug.

    14. Januar 2023: Hunderte werden geknüppelt

    Die Polizeigewalt fand ihren Höhepunkt jedoch in der Zeit um den 14. Januar letzten Jahres. An jenem Samstag hatten rund 35.000 Menschen gegen den geplanten Braunkohlebau in Lützerath demonstriert. Trotz des massiven Polizeiaufgebots konnte das Dorf weitestgehend gehalten werden, einige Häuser waren am Ende des Tages noch immer besetzt.

    Der Aachener Polizeichef warnte bereits im Vorhinein vor „unschönen Bildern“. Seine Worte sollten im Laufe des Tages noch zur Realität werden: Laut der Initiative Lützerath lebt meldeten sich 145 verletzte Demonstrant:innen, davon 10 mit erlittenen Knochenbrüchen. Auch ausgewiesene Journalist:innen wurden durch die Polizei mehrfach an ihrer Arbeit gehindert – in Absprache mit den Beamt:innen entschied letztlich RWE, wer Zutritt erhalten dürfe und wer nicht.

    Dass die Knüppel der Polizei dabei nicht nur auf sogenannte „radikale Klima-Chaoten“, wie NRW-Innenminister Reul sie nannte, niederprasselten, beweist letztlich auch der Fall der Familie A: So berichtete die taz von einem Familienvater, dem nach der Teilnahme an der friedlichen Demonstration in Lützerath an jenem 14. Januar mehrfach von einem Polizisten mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurde. Er wurde letztlich mit einer gebrochenen Nase, Hämatomen im Gesicht und einer Platzwunde unter dem linken Auge zurückgelassen.

    NRW-Innenminister Reul verteidigte später das Verhalten der Polizei und bezeichnete ihre Arbeit als „hochprofessionell“. Womöglich habe es „zwei, drei Einzelfälle“ gegeben von Beamt:innen, die sich „nicht richtig verhalten“ hätten. Von den 32 gegen Polizist:innen eingeleiteten Strafverfahren wurden mittlerweile schon 21 durch die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach eingestellt.

    Das Ende von Lützerath war nicht notwendig

    Doch trotz der Gewalt und der zunehmenden Räumung konnten einzelne Stellungen im Dorf noch gehalten werden. Schließlich verließen am 16. Januar 2023 die zwei Aktivist:innen Pinky & Brain nach einer spektakulären Tunnelbesetzung in Lützerath das Gelände – das Ende des Dorfes war besiegelt.

    Abseits von all der Polizeigewalt stand und steht jedoch für viele vor allem die vielleicht wichtigste Frage im Raum: War die Zerstörung Lützeraths überhaupt notwendig? Mehrere Forschungsinstitute kamen dabei – ganz im Gegensatz zu dem von der Landesregierung in Auftrag gegebenen Gutachten – zu dem Schluss, dass die Kohle unter Lützerath für die Energiesicherheit nicht benötigt werde.

    Lützerath: Die Politik verteidigt die Interessen des Konzernriesen

    Was bleibt?

    Ganz ungeachtet der moralischen Fragen im Bezug auf die Zerstörung eines ganzen Dorfes hat diese Erkenntnis bei großen Teilen der Klimabewegung, die in Teilen ohnehin schon antikapitalistisch ausgerichtet ist, den Unmut und die Empörung gegenüber dem Staat, seinen Repressionsorganen und seiner Regierung noch gesteigert. Denn – sowohl auf Landes- wie auch Bundesebene – war hier selbst die grüne Partei Gegenspielerin der Aktivist:innen.

    Gleich mehrfach verteidigten führende Grüne-Politiker:innen den Abriss durch die RWE, darunter auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und sein NRW-Äquivalent Mona Neubaur. Auch Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang sprach in klassisch -grüner Bauchschmerzen-Manier von „keinen einfachen Kompromissen“, steht jedoch immer noch stramm hinter der Parteilinie und der Zerstörung Lützeraths zum Wohle der vorgeblichen Energiesicherheit.

    Dass die Grünen dabei immer wieder in Hand in Hand mit Großkonzernen marschieren und den kapitalistischen Raubbau – gegen den sie eigentlich vorgeben zu kämpfen – so vehement verteidigen, stellt schon seit mehreren Jahren ihre Legitimation als vorgebliche „Klimapartei“ grundsätzlich in Frage. Denn wenn RWE es so will, werden auch in einem Bundesland mit grüner Regierungsbeteiligung fossile Rohstoffe bis zum Umfallen abgebaggert, Dörfer abgerissen und Menschen niedergeknüppelt.

    Zwar sind die Geschehnisse um Lützerath mittlerweile schon wieder ein Jahr her, an Aktualität haben sie aber nichts verloren. Nicht nur hat sich das brutale Vorgehen von Polizei und Regierung in das kollektive Gedächtnis der Klimabewegung eingebrannt, in anderen Teilen des Landes passieren derzeit ganz ähnliche Dinge.

    Erst vor einigen Tagen wurde das Protestcamp Tümpeltown in der Nähe von Hannover endgültig geräumt. Hier protestieren Anwohner:innen und Aktivist:innen schon seit mehreren Jahren gegen den Ausbau einer Schnellstraße. Er hätte eine Rodung des Naturschutzgebiets Leinemasch zur Folge – all dies geschieht unter einer rot-grünen Regierung in Niedersachsen.

    • Seit 2022 politisch aktiv in Sachsen. Schreibt am liebsten über Antifa und Kultur im Kapitalismus. "Es gibt kein anderes Mittel, den Schwankenden zu helfen, als daß man aufhört, selbst zu schwanken."

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