Das israelische Militär hat mit seiner Offensive auf die Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen begonnen. Damit ist der Krieg in eine neue Phase getreten. Trotz internationaler Warnungen vor einem Massaker an der Zivilbevölkerung finden derzeit Bombardements und Gefechte statt. Auch die Zustimmung der Hamas zu einem Deal-Vorschlag der Unterhändler wurde von Israel ausgeschlagen. In ganz Deutschland und international kam es zu Spontanprotesten unter dem Motto „All Eyes on Rafah“. Deutsche Regierungspolitiker:innen schweigen bislang.
Die Stadt Rafah liegt im äußersten Süden des Gazastreifens. Seit der israelischen Boden-Invasion am 27. Oktober ist hier die Bevölkerung um eine Million Menschen auf rund 1,3 Millionen angeschwollen. Es handelt sich um Vertriebene aus übrigen Teilen des Gazastreifens, die dort in Zeltstädten und teilweise unter offenem Himmel leben. Sie sind nun auf einem Bereich zusammengepfercht, der etwa nur drei mal so groß ist wie der gesamte Frankfurter Flughafen.
Seit Wochen schon drohte die israelische Armee damit, auch in Rafah einzumarschieren, um dort nach offiziellen Angaben vier stehende Bataillone der Organisation Hamas zu zerstören. Am Sonntag wurde der katarische Sender Al Jazeera auf Beschluss des israelischen Kriegskabinetts geschlossen. Dieser konnte bis dato über das israelische Vorgehen im Gazastreifen auch innerhalb Israels informieren. Heute früh wurden dann Flugblätter abgeworfen, welche die Bewohner:innen von Rafah aufforderten, die Stadt umgehend in Richtung einer „Evakuierungszone“ zu verlassen. Es sei mit „extremer Gewalt“ zu rechnen.
Um 21:12 erklärte der Sprecher des israelischen Militärs, Daniel Hagari, dann auf X/Twitter: „Die IDF-Kräfte greifen jetzt gezielt Ziele der Terrororganisation Hamas in Mizrah Rafah an und operieren gegen sie. Weitere Details werden folgen.“ Damit wurden Berichte bestätigt, dass die Bodenoffensive auf Rafah und damit eine neue Phase im Gaza-Krieg begonnen hat.
Ein palästinensischer Twitter-User beschreibt die Situation so: „Ich spreche zu Ihnen aus dem Osten von Rafah, aus dem Bereich der Evakuierungszonen. Die Fahrzeuge beginnen, von der östlichen Grenze her zu kommen. Die Situation ist sehr schlecht, und die Bombardierung und die Feuergürtel gehen weiter und hören nicht auf. Flugzeugbombardements, Artilleriebeschuss, Leuchtbomben, Apache-Hubschrauber, die die Fahrzeuge unterstützen, Schüsse, das Geräusch der Fahrzeugbewegungen innerhalb der Grenzen von Rafah. Oh Gott, wir sagen dir selbst Lebewohl.“
https://twitter.com/mugharii/status/1787563201267142677
Ägyptischen Quellen zufolge sind derweil Dutzende von Palästinenser:innen auf dem Weg zur Grenze zwischen Rafah und Ägypten und versuchen, die Mauer zu durchbrechen. Pro-israelische Telegram-Kanäle agitieren derweil dafür, dass Ägypten die Grenze öffnen solle, um aus Rafah fliehende Menschen einzulassen. Ägypten hat sich bisher geweigert, den Grenzübergang zu öffnen. Parallel zur Rafah-Offensive haben nach israelischen Medienangaben auch Angriffe auf den Süd-Libanon stattgefunden.
Internationale Ablehnung
International stößt das israelische Vorgehen auf einhellige Ablehnung. Das französische Außenministerium erklärte etwa: „Die gewaltsame Vertreibung der Zivilbevölkerung stellt ein Kriegsverbrechen dar“. Das Saudi-Arabische Königshaus erklärte, die internationale Gemeinschaft müsse jetzt sofort intervenieren, um den „Genozid“, der von den „Besatzungskräften“ duchgeführt würde, zu stoppen. Saudi-Arabien hatte erst kürzlich bei den Angriffen des Iran auf Israel Position für die Seite Israels eingenommen. Ebenso verhielt sich der jordanische König, der sich derzeit in den USA aufhält. Er erklärte, ein neues Desaster in Rafah müsse verhindert werden.
Die Operation in Rafah wird im wesentlichen mit amerikanischem Kriegsgerät durchgeführt. Bisweilen hatten sich die USA jedoch öffentlich für eine Waffenruhe eingesetzt. Der Sprecher des Weißen Hauses, John Kriby erklärte, dass die Rafah-Operation „eine Million Menschen einem großen Risiko aussetzen“ würde. Der beste Weg sei ein Deal. Dennoch hat die israelische Armee heute angegriffen.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock hüllen sich derweil in Schweigen.
Verhandlungen sollen weitergehen
Dem Einmarsch vorausgegangen war ein teilweiser Durchbruch bei den informellen Verhandlungen zwischen der Hamas und dem israelischen Staat. So wurde am Nachmittag bekannt, dass der Chef des Politbüros der Hamas gegenüber Ägypten und Katar erklärt habe, die Organisation würde deren vorbereiteten Vorschlag für einen „Deal” zustimmen. Es fanden zudem Telefonate von Hamas-Seite mit dem türkischen und dem iranischen Außenminister statt, von wo aus ähnliches bestätigt wurde.
Die israelische Regierung von Netanjahu lehnte den Vorschlag jedoch ab, da er für die israelischen Ziele nicht ausreiche. Zugleich werde Israel eine Delegation von Unterhändlern zu den Vermittlungsgesprächen entsenden, um die Möglichkeit einer Einigung auf für Israel akzeptable Bedingungen auszuloten.
Auch die Hamas-Verhandlungsdelegation soll morgen in Kairo eintreffen. In einer Erklärung stellte sie jedoch klar, „dass die Widerstandsgruppen nicht von den Forderungen abrücken werden, die in dem von ihnen akzeptierten Vorschlag enthalten sind, darunter vor allem die Waffenruhe, der vollständige Rückzug, ein würdiger Austausch, der Wiederaufbau und die Aufhebung der Belagerung.“
Spontanaktionen in Deutschland und weltweit
Schon wenige Stunden vor dem Beginn der israelischen Bodenoffensive begannen Menschen in ganz Deutschland ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung auszudrücken: So startete gegen 18 Uhr eine Kundgebung vor dem Neptunbrunnen in Berlin, bei der Protestierende den drohenden Einmarsch und die damit einhergehende Zuspitzung der humanitären Katastrophe im Gazastreifen anprangerten.
Kurz darauf brachten etwa hundert Personen im Zuge einer Spontandemonstration einen kämpferischen Ausdruck ihrer Solidarität auf die Sonnenallee im Berliner Bezirk Neukölln, der in der Vergangenheit immer wieder zum Schauplatz von internationalistischen Protesten geworden war.
„Yalla Intifada!“ – Rund 100 antiisraelische Aktivisten liefen heute auf der Sonnenallee auf und ab. Dabei zündeten sie Pyrotechnik, warfen Böller und riefen Parolen wie „From the river to the sea Palestine will be free!“. Die Polizei schien lange überfordert. #b0605 pic.twitter.com/ohOGvpei4F
— democ (@democ_de) May 6, 2024
Die Proteste für ein Ende des anhaltenden Krieges in den Vereinigten Staaten waren wiederum oft von Studierenden geprägt. So besetzten hunderte Menschen an verschiedenen Hochschulen des Landes die Hochschulflächen und organisierten Protestcamps, in deren Verlauf allein in New York 108 Studierende von der Polizei gewaltsam festgenommen wurden. Am Montag wiederum versammelten sich Protestierende am Manhattan’s Hunter College, nur unweit von der prominent besetzten Modeveranstaltung „Met Gala 2024” entfernt.
Nicht zuletzt demonstrierten in Tel Aviv Tausende gegen die Regierung unter Präsident Netanjahu, auch wenn im Mittelpunkt der Proteste die Freilassung der von der Hamas gefangenen Geiseln steht und nicht etwa ein Stopp der Angriffe auf Rafah im Sinne des Schutzes der Palästinenser:innen. So oder so steigt der Druck auf die teils faschistische Regierung Israels: Zuletzt demonstrierten Israelis gar vor Netanjahus Privathaus und forderten Neuwahlen sowie ein Abkommen für die Freilassung aller israelischen Geiseln in den Händen des palästinensischen bewaffneten Widerstands.
Im Laufe der kommenden Tage wird es weltweit zu weiteren großen Protesten kommen. Offizielle Ankündigungen gibt es bisher unter anderem für London. Dabei ist davon auszugehen, dass die Demonstrationen rund um den 76. Jahrestag der „Nakba” (arab. für „Katastrophe”) am 15. Mai eine besondere Qualität erreichen werden: Seit Jahrzehnten gehen internationalistische Aktivist:innen und Palästinenser:innen an diesem Tag auf die Straße, um die anhaltende Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihren Gebieten anzuprangern und um für einen gerechten Frieden in Westasien einzustehen.