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Freitag, September 13, 2024
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    Landtagswahlen in Ostdeutschland: Ende des alten Parteiensystems?

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    Im September wählen die Menschen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg neue Landtage. Umfragen sagen Erdrutschsiege der AfD vorher. Die neue Partei BSW könnte aus dem Stand zweistellige Ergebnisse einfahren. Wie ist die Neuordnung der Parteienlandschaft einzuschätzen? – Ein Kommentar von Thomas Stark.

    Absturz in die Bedeutungslosigkeit? Glaubt man einer Umfrage von Ende Juni, könnte der Minderheitsregierung von Bodo Ramelow in Thüringen am 1. September eine beispiellose Abwahl drohen. Die Koalition des Linkspartei-Ministerpräsidenten, der noch SPD und Grüne angehören, käme demnach auf höchstens ein Viertel der Stimmen. 2019 kam die Linke allein noch auf 31 Prozent, heute rangiert sie zwischen 11 und 14 Prozent.

    Die wahrscheinliche Abwahl Ramelows ist nur ein Symptom für die sich abzeichnende Neuordnung der Parteienlandschaft in Ostdeutschland: Wenn am 1. September in Sachsen und Thüringen und am 22. September in Brandenburg gewählt wird, könnte die AfD in allen drei Ländern als stärkste Kraft hervorgehen. Ihre Umfragewerte reichen von 23 Prozent in Brandenburg bis 31 Prozent in Sachsen.

    Kommt es zu diesem Ergebnis, dürfte es auch den Kräften in der CDU und anderen Parteien Auftrieb verleihen, welche die „Brandmauer“ zur AfD einreißen und eine offene Zusammenarbeit mit ihnen beginnen wollen. Eine solche würde aber zwangsläufig zu einer Verschärfung der reaktionären, arbeiter:innen-, migrant:innen-, frauen- und LGBTI+-feindlichen Politik führen und die faschistische Bewegung auf viele Arten stärken.

    Was bedeutet der Aufstieg des BSW?

    Dass es so kommt, ist aber noch keineswegs ausgemacht. Denn mit dem neuen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) steht in diesem Jahr eine neue Option auf dem Wahlzettel, die im Osten aus dem Stand auf zweistellige Ergebnisse kommen könnte und aktuell in Sachsen und Thüringen als drittstärkste Kraft gehandelt wird.

    Das BSW hatte sich unter seiner Führungsfigur Sahra Wagenknecht Anfang des Jahres von der Linken abgespalten und einen neuen Kurs eingeschlagen. Wagenknecht gibt sich als Stimme der Arbeiter:innenklasse aus und will zugleich das industrielle Unternehmertum in Deutschland stärken. Sie fordert bessere Löhne und Renten und hetzt im nächsten Satz gegen Geflüchtete und Migrant:innen. In der Programmatik des BSW sollen der Nationalstaat gestärkt und die Außengrenzen hochgezogen werden.

    Vor allem aber treten Wagenknecht und das BSW erklärtermaßen für eine neue deutsche Außenpolitik ein. Vordergründig geht es dabei um Pazifismus, etwa wenn die Partei „die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln“ grundsätzlich ablehnt und Diplomatie statt Waffenlieferungen fordert. Dies bezieht Wagenknecht ausdrücklich auf den Ukraine-Krieg, bei dem sie eine zügige Verhandlungslösung mit Russland anstrebt.

    Der Kernpunkt bei Wagenknechts außenpolitischer Linie, die diesen Positionen zugrunde liegt, ist jedoch vor allem die Abkehr von der transatlantischen Bündnispolitik der Nachkriegszeit: „Unser Ziel ist ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt und keine neue Blockkonfrontation, in der Europa zwischen den USA und dem sich immer selbstbewusster formierenden neuen Machtblock um China und Russland zerrieben wird“. Dementsprechend forderte die BSW-Bundestagsgruppe im Juni einen „Stopp der Nato-Expansion in Europa und Asien“.

    Neue deutsche Außenpolitik?

    Das BSW vertritt damit eine ähnliche außenpolitische Ausrichtung wie die AfD, die sich ebenfalls seit Jahren pazifistische Parolen auf die Fahnen schreibt und die Nato kritisiert. Beide treten zugleich – wenn auch mit etwas unterschiedlichem Tonfall – für eine Stärkung der Bundeswehr ein: das BSW will diese für den Verteidigungsfall „angemessen ausgerüstet“ sehen, während die AfD auch offen für die Wehrpflicht wirbt.

    Der Effekt der Positionierung des BSW und seines Erstarkens ist jedoch, dass das Eintreten für eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg und die damit verbundene Abkehr von der bisherigen Nato-Politik die neue Partei erstmals für andere Parteien anschlussfähig macht. Denn auch in SPD und Union sind die Kräfte mit der gleichen Haltung und mit zum Teil guten Beziehungen nach Russland nicht verschwunden.

    Auch wenn die SPD mit ihrem Ex-Kanzler Schröder den wichtigsten Protagonisten einer eigenständigeren deutschen Geostrategie der letzten Jahrzehnte zu Kriegsbeginn geopfert hat: Mit dem Vorstoß von Fraktionschef Rolf Mützenich im März im Bundestag, der ein Einfrieren des Ukraine-Kriegs ins Spiel gebracht hat, ist diese Position der Diplomatie mit Russland in der Sozialdemokratie erstmals wieder aus der Deckung gekommen – und zwar in Absprache mit dem Kanzleramt.

    So schließen CDU und SPD eine Koalition mit dem BSW nach den Landtagswahlen nicht aus. Ohne diese Option hätten sie auch wahrscheinlich keinerlei Regierungsmöglichkeit mehr. Spätestens bei den entsprechenden Verhandlungen könnte es aus ihren Reihen auch zu Annäherungen in außenpolitischen Fragen kommen.

    Für beide Parteien wäre damit das Problem gelöst, wie sie in der Russlandpolitik Positionen wiederbeleben können, die seit zwei Jahren faktisch tabu waren – und das, ohne dabei die „Brandmauer“ zur AfD einreißen zu müssen. Dasselbe gilt für eine noch radikalere Migrations- und Flüchtlingspolitik: Auch hier liefert das offensive Auftreten des BSW den anderen Parteien die Vorlage dafür, diese Haltungen selbst einzunehmen.

    Mit anderen Worten: Das BSW erfüllt in der heutigen politischen Landschaft die Funktion, radikalere Positionen salonfähig zu machen und die anderen bürgerlichen Parteien damit nach rechts zu ziehen.

    Polarisierung der Arbeiter:innenklasse

    Die Landtage in Ostdeutschland haben damit das Potential, zum politischen Versuchslabor für die gesamte BRD zu werden. Auch wenn AfD und BSW in Westdeutschland im Durchschnitt bislang schwächer sind als im Osten, konnten sie schon bei der Europawahl in einigen Arbeiter:innenbezirken punkten. Die veränderte Parteienlandschaft kündigt aber Veränderungen im gesamten bürgerlichen Lager an, nämlich hin zu einer radikaleren arbeiter:innenfeindlichen Politik – ob in Form von rassistischer Hetze, Aufrüstung oder einer aggressiveren Weltmachtpolitik Deutschlands.

    Die Arbeiter:innenklasse wird dem nur dann etwas entgegensetzen können, wenn sie sich als eigenständige politische Kraft formiert und weder den bürgerlichen Parteien, noch der faschistischen AfD oder dem BSW als Motor für die Radikalisierung der Sozialdemokratie und des bürgerlichen Lagers hinterherläuft. Vor allem aber muss sie ihre eigene Spaltung überwinden, die sich etwa in der Empfänglichkeit für migrationsfeindliche Parolen und in den Zuwächsen für AfD und BSW in proletarischen Bezirken ausdrückt.

    Der Untergang einer reformistischen Partei wie der Linken kann der Vorbote eines Rechtsrucks in Deutschland sein – oder aber die Chance für eine wirklich fortschrittliche, revolutionäre Ausrichtung der Arbeiter:innenklasse.

    Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 89 vom August 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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