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Dienstag, April 16, 2024
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    Identitätspolitik bei Amazon: Liebesgrüße aus Absurdistan

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    Richtlinien der Firma Amazon Studios sehen vor, dass Schauspieler:innen nur noch ihr eigenes Geschlecht, ihre Herkunft, sexuelle Orientierung und Behinderung spielen sollen. Was als Beitrag zu Inklusion und Diversität verkauft wird, ist in Wahrheit nichts anderes als reaktionäre Spaltungspolitik. Die Episode erinnert daran, wie die postmoderne Identitätspolitik Unterdrückungsverhältnisse und den Kampf dagegen ins Gegenteil umdeutet. – Ein Kommentar von Thomas Stark.

    Im Sommer 2019 wurde im Londoner Globe Theatre das bekannte Shakespeare-Stück „Henry V“ aufgeführt. Das Drama behandelt das Leben des gleichnamigen englischen Königs und seine Rolle im Hundertjährigen Krieg Englands mit Frankreich im 15. Jahrhundert. Der Theater-König im 21. Jahrhundert dürfte sich optisch stark vom historischen Original unterschieden haben – Heinrich V. wurde in London von einer schwarzen Frau gespielt. Überhaupt kamen in der Inszenierung Frauen vor, die männliche Rollen spielten, und umgekehrt.

    Neue Politik bei Amazon Studios

    Eine solche Rollenbesetzung dürfte zumindest bei Amazon Studios, einer Tochterfirma des bekannten Technologiemonopols, in Zukunft tabu sein. Neue Richtlinien der Firma sehen nämlich vor, dass in Zukunft „nur noch Schauspieler engagiert werden“ sollen, „deren Identität (Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Behinderung) mit den Figuren, die sie spielen, übereinstimmt.“ Die Regelung soll nach eigenem Bekunden das Eintreten Amazons „für Diversität, Inklusion und Gerechtigkeit ihrer Erzeugnisse und Inhalte“ zum Ausdruck bringen.

    Beim Lesen dieser Verordnung schießen einem sofort einige Fragen durch den Kopf: Werden die schauspielerischen Möglichkeiten gerade von Darsteller:innen mit Migrationshintergrund hierdurch in der Praxis nicht massiv eingeschränkt? Hätten einige bekannte Filme über gleichgeschlechtliche Beziehungen mit großartiger Darstellung wie „Call Me by Your Name“ oder „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ nie gedreht werden dürfen – immerhin führten Hauptdarsteller:innen aus diesen Filmen im echten Leben Beziehungen mit Personen des jeweils anderen Geschlechts? Wer darf in Zukunft eigentlich Demenzkranke oder Wachkomapatient:innen spielen, wenn jede:r im Prinzip nur noch exakt sich selbst darstellen darf? Wird hier nicht der gesamte Berufszweig der Schauspielerei ad absurdum geführt?

    Amazon als Film- und Streaming-Monopol

    Man wäre geneigt, über die Angelegenheit mit dem Kopf zu schütteln und sich nicht weiter damit zu befassen. Amazon gehört heute jedoch zu den größten Unternehmen der Filmindustrie, teilt sich den Streaming-Markt mit Netflix, HBO und Disney auf und will in Kürze das Hollywood-Flaggschiff MGM (u.a. „James Bond“) für knapp 7 Milliarden Euro übernehmen. Allein für die laufende Produktion der Serienversion von „Herr der Ringe“ hat Amazon Studios insgesamt 1 Milliarde Dollar eingeplant. Es deutet sich schon lange an, dass in Zukunft Amazon, Netflix und Co. die Regeln vorgeben, nach denen weltweit Filme und Serien produziert werden.

    Kampf gegen Unterdrückung oder identitäre Empörungsrituale? – Eine Rezension

    Postmoderne Identitätspolitik

    Mit der neuen Schauspiel-Richtlinie zeigt Amazon, dass es diese Produktionsmacht dazu benutzen wird, unter dem Vorwand angeblicher „Diversität“ und „Inklusion“ in Wahrheit reaktionäre Ideologien in der Bevölkerung zu verbreiten. In diesem Fall handelt es sich um eine Erscheinungsform der sogenannten postmodernen Identitätspolitik, die heute auch in Teilen der linken politischen Widerstandsbewegung einflussreich ist.

    Nach dieser Ideologie werden die zahlreichen besonderen Unterdrückungsverhältnisse im Kapitalismus wie die rassistische Unterdrückung, die Unterdrückung von LGBTI+ Personen oder von Menschen mit Behinderung aus dem Zusammenhang mit dem Klassenverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat gerissen.

    Statt aufzuzeigen, wie Unterdrückung und Diskriminierung letztlich der Spaltung der Arbeiter:innenklasse und der Aufrechterhaltung der Kapitalsherrschaft dienen, werden diese Verhältnisse zusammenhanglos nebeneinander gestellt und idealistisch als das alleinige Ergebnis falscher individueller Verhaltensweisen verklärt.

    Hierbei geht es nicht darum, dass solche individuellen Verhaltensweisen auch unter Arbeiter:innen nicht existieren würden und bekämpft werden müssen. Das Problem ist vielmehr, dass weite Teile der Arbeiter:innenklasse nach dem postmodernen Verständnis zu den Verursacher:innen von Unterdrückung umgedeutet und als „Privilegierte“ mit der Bourgeoisie in einen Topf geworfen werden. Dem gegenüber stehen nach dem identitätspolitischen Verständnis die diversen „Communities“ der Unterdrückten, bei denen die jeweiligen bürgerlichen Teile eingeschlossen sind.

    Statt dem Klassenkampf der vereinigten Arbeiter:innenklasse gegen das kapitalistische System wird die gesellschaftliche Perspektive im „Empowerment“ der unterdrückten Communities gesehen – was in der Praxis allzu häufig auf mehr Teilhabe im Kapitalismus, etwa durch die Entwicklung eines von Schwarzen geführten Industrie- und Finanzsektors  oder die Bildung diverserer Aufsichtsräte und imperialistischer Regierungen hinausläuft.

    Spaltung und Umdeutung von Solidarität

    Was Amazon als Eintreten gegen Unterdrückungsverhältnisse verkauft, ist tatsächlich also die Verbreitung einer Ideologie, welche letztlich die verschiedenen Teile der im Kapitalismus ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiter:innen gegeneinander ausspielt. Dies geht so weit, dass sogar die praktische Ausübung von Empathie oder das Eintreten gegen Unterdrückung zur Unterdrückung umgedeutet wird.

    Nach der identitätspolitischen Logik bei Amazon wäre es quasi übergriffig, wenn heterosexuelle Schauspieler:innen eine Liebesbeziehung zwischen zwei Männern oder Frauen darstellen, egal wie einfühlsam und gut die Darstellung auch ist und wie viele Zuschauer:innen sich darin wiederfinden – mal ganz abgesehen von der Frage, wen die sexuelle Orientierung der Schauspieler:innen überhaupt irgendetwas angeht.

    Mit einer ähnlichen Logik wird heutzutage in politischen Bündnissen z.B. die Solidarisierung von Nicht-Betroffenen mit antirassistischen oder LGBTI+ Kämpfen skandalisiert, was nicht selten zur Spaltung solcher Bündnisse führt. Aktivist:innen in Frankreich fordern die Trennung von Uni-Seminaren nach „rassifizierten“ und „nicht-rassifizierten“ Student:innen .

    Die Debatte um das „N-“ oder das „Z-Wort“ wird so weit getrieben, dass der Rassismus allein in deren Aussprache oder Niederschrift ausgemacht wird, ohne mehr auf den Inhalt konkreter Aussagen einzugehen. Das führt dazu, dass der Hinweis auf einen rassistischen Text in einem Schulbuch zum Skandal gerät, weil hierbei das Wort versehentlich gefallen ist. So ist es kürzlich der grünen Kanzlerkandidatin Baerbock – ansonsten einer Identifikationsfigur der postmodernen Liberalen – passiert.

    Wäre Baerbock die bessere Kanzlerin?

    Derselbe Tatbestand führte einen neuseeländischen Radiohörer vor zwei Jahren dazu, sich über Bob Dylans Song „Hurricane“ zu beschweren. Dieser sei „angreifend, rassistisch und inakzeptabel“, weil darin das „N-Wort“ ausgesprochen werde. Mit der achtminütigen Anklage gegen die Rassenjustiz in den USA hatte der Künstler in den 70er Jahren den Fall der unschuldigen Inhaftierung eines schwarzen Boxers weltbekannt gemacht, was einige Jahre später zu dessen Freilassung beitrug. Die Beschwerde des Hörers beschäftigte sogar eine staatliche Aufsichtsbehörde, welche sie immerhin zurückwies.

    Diversity als Geschäftsmodell

    Das Interesse der Kapitalist:innenklasse an der Verbreitung idealistischer und spalterischer Ideologien ist politisch einleuchtend. Wo die öffentliche Aufmerksamkeit von Shitstorm zu Shitstorm über „problematische“ Rollenbesetzungen, Äußerungen oder auch Frisuren von Prominenten geleitet wird, bleiben die großen Verbrechen des Imperialismus leichter im Dunkeln.

    Wo Arbeiter:innen und politische Aktivist:innen sich in Kämpfen darum zerfleischen, wer was sagen und wer sich noch mit wem solidarisieren darf, werden Klassenkämpfe offensichtlich gehemmt. Gleichzeitig können Kapitalist:innen und bürgerliche Politiker:innen die Identitätspolitik zur eigenen Inszenierung nutzen, wie es die US-Vizepräsidentin Kamala Harris im vergangenen Jahr vorgemacht hat.

    Für einzelne Konzerne wie Amazon ist die „Diversity“-Inszenierung wiederum nicht nur zu Marketingzwecken nützlich. Die Produktion von Serien und Filmen, von denen sich alle Teile der Gesellschaft angesprochen fühlen sollen, dient nicht zuletzt dem platten geschäftlichen Zweck, in jeden Winkel der Bevölkerung vorzudringen und dort Daten zu sammeln. Vor allem Netflix hat dieses Geschäftsmodell in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich etabliert.

    Amazon umschreibt diese versteckte Zielsetzung seiner neuen Diversity-Richtlinie damit, es wolle „Geschichten und Erzählperspektiven“ aufspüren, „die für unser weltweites Prime-Video-Publikum Stimmen quer durch alle Nationalitäten, sexuellen Vorlieben, Generationen, Religionen und Geschlechter verstärken“.

    Für uns Arbeiter:innen muss es dagegen darum gehen, uns quer durch alle Nationalitäten, sexuellen Vorlieben, Generationen, Religionen und Geschlechter zusammenzuschließen und den (mehr als) Hundertjährigen Krieg gegen das kapitalistische System zum Sieg zu führen. Dafür jedoch müssen wir alle bürgerlichen Spaltungsideologien beiseite räumen.

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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