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Montag, April 29, 2024
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    Kampf gegen Unterdrückung oder identitäre Empörungsrituale? – Eine Rezension

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    Die französische Feministin Caroline Fourest rechnet in ihrem Buch „Generation Beleidigt“ mit der „identitären Linken“ ab. Zwar bleibt sie in bürgerlichen Begriffen gefangen und liefert keine wirkliche Analyse der Strömung. Mit ihrer Kritik an den haarsträubenden Konsequenzen identitärer Politik geht sie jedoch in die richtige Richtung. – Ein Kommentar von Thomas Stark.

    Ist es ok, wenn eine amerikanische Mutter für ihre Tochter einen japanischen Kindergeburtstag ausrichtet, bei dem sich die Gäste Kimonos anziehen, grünen Tee trinken und mit Stäbchen essen? Offenbar ist das eine Frage, die heutzutage nicht wenige Menschen in den sozialen Medien umtreibt. Als es Heidi – die Mutter, um die es geht – im November 2012 gewagt hatte, Bilder der besagten Party im Internet zu posten, erntete sie einen wütenden Shitstorm. Zahlreiche Ankläger:innen im Netz beschuldigten sie des „Yellowfacing“ und der „kulturellen Aneignung“ und warfen ihr vor, ihre Kinder schlecht zu erziehen.

    Linksidentitäre Schmähkampagnen

    Die Episode von Heidi und ihrer „Meute von Inquisitoren“ schildert die französische Autorin Caroline Fourest in ihrem Buch „Generation Beleidigt – von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“. Den Text versteht sie als Kritik am wachsenden Einfluss der „identitären Linken“, den sie vor allem in Nordamerika und England, aber zunehmend auch in Frankreich wahrnimmt. Heidis Kindergeburtstag und die anschließenden Schimpftiraden sind kein Einzelfall, wie viele politisch interessierte Leute auch in Deutschland wissen und wie es Fourest in ihrem Buch ausgiebig darlegt. „Generation Beleidigt“ wimmelt geradezu von Beispielen identitärer Kampagnen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen: Der Yoga-Kurs für behinderte Student:innen in Kanada, dessen Streichung Uni-Aktivist:innen mit der Begründung forderten, dass Yoga allein den Inder:innen gehöre.

    Die Boykottforderungen gegen eine antirassistische Ausstellung – wegen der weißen Hautfarbe des Künstlers. Die Forderung einer französischen Studierendengruppe, Uni-Workshops nach „rassifizierten“ und „nicht-rassifizierten“ Teilnehmer:innen zu trennen. Die geflochtenen Zöpfe von Katy Perry, die irgendjemanden im Netz an afrikanische Haartracht erinnerten, und für die sich die Sängerin nach erhitzter Debatte in einer demütigen Geste öffentlich entschuldigte. Als einer „privilegierten weißen Frau“ stehe es ihr nicht zu, sich die Haare zu flechten. Oder die Idee des kleinwüchsigen Schauspielers Peter Dinklage, der seinen verstorbenen und ebenfalls kleinwüchsigen Freund Hervé Villechaize in einem Film darstellen wollte. Sein Plan führte ihn ebenfalls auf die Anklagebank eines sich ereifernden Social-Media-Publikums. Was war passiert? Strenge Beobachter:innen hatten wegen Villechaizes braunen Teints und der Form seiner Augen angenommen, dieser sei Filipino gewesen. In Wahrheit kam er aus Frankreich.

    Fourest will mit ihrem Buch erklärtermaßen nicht den Rechten und Faschist:innen das Wort reden, die darauf pochen, was man alles ja wohl noch sagen dürfe. Sie will nicht die Zeiten zurück, „in denen man sich an Homosexuellen, Schwarzen oder Juden auslassen durfte“. Sie richtet sich auch ausdrücklich nicht gegen „Bewegungen wie #MeToo, die endlich die wahren Tabus von Belästigungen und Missbrauch angesprochen und öffentlich gemacht haben“. Stattdessen kritisiert sie vor allem zwei Tendenzen, auf welche die Politik der „identitären Linken“ hinauslaufe.

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    Entpolitisierung, die sich verwerten lässt

    Erstens werde der reale Kampf gegen rassistische und patriarchale Unterdrückung zunehmend von einer entpolitisierten Empörungskultur verdrängt. Diese arbeite sich, wie Fourest mit ihren zahlreichen Beispielen unterlegt, meist oberflächlich und häufig völlig uninformiert an belanglosen Nebenkriegsschauplätzen ab. Die „moralistische“ und „identitäre“ Linke streite laut Fourest „für nichts“, ereifere sich „über alles“ und wettere „gegen Stars, Werke und Künstler“: Man weigere sich, „große klassische Werke zu studieren, da diese ‚beleidigende‘ Passagen enthielten“. Man nehme „Anstoß am geringsten Widerstand, der als ‚Mikroaggression‘ wahrgenommen“ werde – was so weit gehe, dass jede besondere Gruppe heute ‚Safe Spaces‘ quasi als geschützte Komfortzonen für sich einfordere: „Sichere Räume, in denen die Leute unter sich bleiben und lernen, dem Anderssein und der Debatte zu entfliehen.“

    Selbst das Rederecht werde einer „Genehmigungspflicht“ unterworfen, „je nach Geschlecht und Hautfarbe“. Wie man aus den Schilderungen der Autorin schlussfolgern kann, ist der beschriebene Trend in vielen Ländern kein Phänomen mehr, das nur die Welt der Unis und des politischen Aktivismus betrifft. Der Kapitalismus scheint vielmehr bereits eine ganze Befindlichkeits- und Empörungsindustrie hervorgebracht zu haben. Seien es die von Fourest beschriebenen Online-Redaktionen, die auf der Jagd nach Clickbaits auch auf die kleinsten Geschichten aufspringen, die sich für ein paar Tage skandalisieren lassen. Sei es das Geschäftsmodell der „sensitivity readers“, die im Auftrag der Film- und Verlagsindustrie Manuskripte und Drehbücher auf empörungsfähige Inhalte kontroll-lesen – und ihre Tätigkeit nach Zeilen abrechnen.

    Nicht zuletzt werde die ritualisierte identitäre Empörung zu einem Mittel, die Rede- und Pressefreiheit von „links“ einzuschränken – mit dem Effekt, dass sich in der Gegenbewegung dazu ausgerechnet die Faschist:innen als Verteidiger:innen demokratischer Rechte darstellen könnten: „Solange die identitäre Linke den Antirassismus in einer die Freiheit bedrohenden sektiererischen Manier lächerlich macht, wird die identitäre Rechte die Köpfe und Herzen und letztlich auch die Wahlen gewinnen.“

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    Pizza nur noch von Italiener:innen?

    Zweitens legt Fourest dar, dass eine Politik, welche die „Identität“ und Konzepte wie die „kulturelle Aneignung“ verabsolutiere, letztlich selbst beim Rassismus herauskommen müsse (oder alternativ beim Sexismus, der Unterstützung der Homo- und Transphobie o.ä.). Das „Blackfacing“, also schwarz geschminkte Gesichter weißer Schauspieler:innen, gehe zwar vor allem in den USA auf eine üble rassistische Theatertradition zurück. Die Initiativen zur Durchsetzung eines politisch korrekten Theaters und Films würden heute jedoch so weit gehen, dass Schauspieler:innen eigentlich nur noch Figuren ihrer eigenen Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung spielen dürften, wenn sie nicht Gegenstand der nächsten Schmähkampagne werden wollten.

    Die „Inquisitoren“ würden versuchen, in der „grenzenlosen Welt“ des Films und Theaters „Zäune zu errichten und Castings auf der Grundlage von DNA-Tests einzuführen“. Bezüglich der Identitätspolitik im Allgemeinen sieht Fourest das Problem „nicht darin, eine ethnische Identität zu benennen, um ein Ende der Diskriminierung zu fordern“. Stattdessen gehe diese Politik so weit, „dass man die Vermischung und den Austausch von Ideen sowie kulturelle Anleihen“ verbiete. Anstatt Stereotype zu beseitigen, würden diese „verstärkt, und so letztlich Identitäten in Konkurrenz zueinander gebracht.“ Sie spitzt ihre Polemik auf die Frage zu, ob nur noch Italiener Pizza backen dürfen. Man könnte hinzufügen, dass eine solche Vorstellung von kultureller Homogenität und Trennung nach Herkunft ziemlich genau dem Konzept des „Ethnopluralismus“ entspricht, welches die faschistische Strömung der „Neuen Rechten“ vertritt.

    Bürgerlicher Blick und fehlende Analyse

    Den historischen Beginn der „identitären Linken“ sieht Fourest beim “Combahee River Collective”, einer schwarzen Lesbengruppe in den USA. Diese hätte sich 1977 in einem Manifest von der Frauenbewegung losgesagt und ihre Identität zum alleinigen Ausgangspunkt ihrer Politik erklärt: „Wir glauben, dass die tiefste und möglicherweise radikalste Politik direkt unserer Identität entspringt und nicht der Aufgabe, der Unterdrückung von jemand anderem ein Ende zu setzen.“ Fourest kommt zu dem Schluss: „Damit ist alles gesagt. Die eigene Nabelschau ist wichtiger, als für das Wohl der ganzen Welt zu sorgen.“ Im weiteren Verlauf hätte die Identitätspolitik „durch radikale Kleinstgruppen“ und die „postkolonialen Studienprogramme“ der 1990er Jahre „an Dynamik gewonnen“.

    Angesichts ihres berechtigten Entsetzens über die zum Teil grotesken Auswüchse linksidentitärer Politik ist es bedauerlich, dass Fourests Analyse nur bis zu diesem Punkt kommt. Letztlich bleibt sie selbst in den bürgerlichen, moralisierenden Kategorien gefangen, die der Gegenstand ihrer Kritik sind. Fourests Eintreten für das „Wohl der ganzen Welt“ bezeichnet sie als „Universalismus“, den sie dem „Separatismus“ der „identitären Linken“ gegenüberstellt. Beides ist jedoch philosophischer Idealismus – in diesem Fall die Herleitung von Politik aus abstrakten Prinzipien – und damit bürgerliche Ideologie.

    Die Positionen der „identitären Linken“ sind konkret ein Ausdruck des Postmodernismus, einer idealistischen Strömung, die von Philosoph:innen wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Judith Butler repräsentiert wird und deren Wurzeln man bis zum reaktionären bürgerlichen Denker Friedrich Nietzsche zurückverfolgen kann. Den Zusammenhang zwischen Identitätspolitik und Postmodernismus erwähnt Fourest in ihrem Buch jedoch nur in einigen Nebensätzen. Ihre eigene politische Haltung lässt sich als bürgerlicher, liberaler Feminismus beschreiben. Fourest bezeichnet sich als „Charlie-Hebdo-Linke“ und wendet sich gegen revolutionäre Tendenzen sowie den „Totalitarismus“, den sie heute besonders im islamischen Fundamentalismus zu sehen scheint.

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    Klassenkampf oder Identitätspolitik

    Das wirkliche Problem bei der „identitären Linken“ liegt jedoch nicht in einer Auseinandersetzung zwischen abstrakten moralischen Prinzipien, zwischen „Universalismus“ und „Separatismus“, sondern betrifft den realen Klassenkampf: Der Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen das kapitalistische System ist seinem Inhalt nach international und umfasst alle Geschlechter, alle sexuellen Orientierungen und Identitäten. Er erfordert die internationale, geschlechter- und identitätsübergreifende Solidarität der Arbeiter:innen gegen das Kapital.

    Bei der Frage der „kulturellen Aneignung“ etwa macht es den entscheidenden Unterschied, ob Arbeiter:innen sich die Kultur, die Kunst, die Musik ihrer Klassengeschwister aus anderen Ländern aneignen, hierdurch die Barrieren zwischen den Völkern einreißen und die Kultur auf eine neue Stufe heben. Oder ob kapitalistische Unternehmen die Kulturgüter unterdrückter Völker rauben und in Profite verwandeln: Zum Beispiel, wenn H&M sein Geschäft mit Che-Guevara-T-Shirts macht.

    Die bürgerliche Ideologie ist im Interesse des Kapitals darauf ausgerichtet, die Einheit der Arbeiter:innen anzugreifen und zu zersetzen. Die postmoderne Identitätslehre etwa versucht Arbeiter:innen nach Untergruppen aufzuspalten und gegeneinander auszuspielen. Hier geht es nicht darum, z.B. rassistische oder homophobe Verhaltensweisen unter Arbeiter:innen zu bekämpfen, was ein notwendiger Schritt zur Herstellung der Solidarität wäre. Der Postmodernismus verneint vielmehr den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit als solchen, sowie die Nutzung des Rassismus als eines Spaltungs- und Unterdrückungsinstruments durch Kapital und Staat.

    Stattdessen erklärt die Identitätslehre den angeblichen Gegensatz zwischen „privilegierten“ und „nicht-privilegierten“ Arbeiter:innen zur Ursache allen Übels, so z.B. zwischen „weißen“ und „schwarzen“, hetero- und homosexuellen oder zwischen trans und „cis“ Arbeiter:innen. In letzter Konsequenz bedient die Identitätspolitik damit dieselben Herrschaftszwecke wie Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie – nur eben in „linker“ Verkleidung.

    Eine solche Klassenperspektive auf die Identitätspolitik fehlt Fourests Buch leider vollständig. Ihre deutliche und pointiert geschriebene Anklage gegen deren Auswüchse macht es dennoch lesenswert. In einer Zeit, in der die postmoderne Identitätspolitik sichtbar an Einfluss gewinnt, sind solche Beiträge dringend notwendig.

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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