Nachdem Russland im Krieg gegen die Ukraine immer mehr die Oberhand zu gewinnen scheint, gibt es in den westlichen Ländern erste Signale für Verhandlungen. Offenbar in Absprache mit dem Kanzleramt ließ SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im Bundestag kürzlich einen entsprechenden Testballon steigen. Währenddessen zeigen sich innerhalb der NATO die Widersprüche. – Ein Kommentar von Thomas Stark.
Am Karfreitag meldete die Ukraine einen schweren Beschuss ihrer Energie-Infrastruktur durch russische Drohnen und Raketen. In zehn Regionen des Landes habe die russische Armee Kraftwerke bombardiert und damit erneut großflächige Stromausfälle erzeugt. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal forderte daraufhin seine westlichen Verbündeten umgehend auf, seinem Land mehr Luftabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen.
Munitionsmangel und bröckelnde Unterstützung im Westen
Zwar entspannt der beginnende Frühling die Auswirkungen der Angriffe auf die ukrainische Energie-Infrastruktur ein wenig. Der Angriff vom Karfreitag verweist jedoch in vielen Aspekten auf die kritische Gesamtlage, in der sich das Land gegenüber der russischen Invasion inzwischen befindet: Denn erstens sind Luftabwehrraketen — und darunter vor allem die schlagkräftigen — nicht die einzigen Militärgeräte, über welche die ukrainische Armee nur in knappen Mengen verfügt. Die Soldaten müssen an der Front nämlich schon seit längerem ihre Munition rationieren, während die russische Armee ihnen mancherorts im Verhältnis 5:1 an Waffen überlegen ist.
Zweitens bröckelt die Front der westlichen Unterstützer des Landes immer offensichtlicher: Der Munitionsmangel der Ukraine ist eine direkte Folge davon, dass die Republikaner im US-Kongress seit Monaten ein 61-Milliarden-Dollar-Militärpaket für das Land blockieren, das die Biden-Regierung aufgesetzt hatte. Frankreich und Polen wiederum prahlen zwar damit, notfalls eigene Truppen in die Ukraine schicken zu wollen, um gegen die russischen Invasoren zu kämpfen. Beide Staaten blockieren aber zugleich ukrainische Agrar-Exporte im Interesse der eigenen Landwirtschaft.
Was der Ukraine-Krieg über die Kriegsführung im 21. Jahrhundert aussagt
Droht ein russischer Durchbruch?
Dass Russland im Ukraine-Krieg inzwischen in eine zunehmend vorteilhafte Lage gerät, wurde spätestens am Wochenende der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar klar. Nachdem die Frontlinie sich zuvor über viele Monate kaum verschoben hatte, eroberte die russische Armee nach monatelangen Kämpfen die strategisch wichtige Stadt Awdijiwka in der Nähe von Donezk und rückte damit gleich 15 Kilometer nach Nordwesten vor. Die Ukraine hatte zuvor sehr viele Kräfte in der Stadt konzentriert, um sie zu halten. Die Nachricht vom Rückzug der ukrainischen Truppen aus Awdijiwka war für Präsident Wolodymyr Selenskyj in München deshalb eine Demütigung: Noch ein Jahr zuvor hatten die Westmächte bei der Konferenz im Hotel „Bayerischer Hof” über eine geplante ukrainische Gegenoffensive debattiert — die dann jedoch sang- und klanglos scheiterte.
Inzwischen mehren sich die Stimmen im Westen, die vor einem russischen Durchbruch durch die geschwächten ukrainischen Verteidigungslinien warnen, sobald im Frühsommer die aufgetauten Böden im Land wieder trocken sind. Einige von ihnen bringen einmal mehr Verhandlungen als Ausweg ins Spiel. Besonders viel Aufsehen und Entsetzen erregte Papst Franziskus, als er der Ukraine im Interview mit einem Schweizer Fernsehsender „Mut zur weißen Fahne“ empfahl: „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln.“ Man mag die Worte als persönliche Meinung des 87-jährigen obersten Katholiken einordnen, der ohnehin nur noch zu sagen scheint, was er denkt.
Doch auch führende Politiker:innen in den imperialistischen Staaten sprechen inzwischen offen über Verhandlungen mit Russland, darunter etwa die republikanischen Mitglieder des US-Senats. Im deutschen Bundestag warf der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich, die Frage auf, ob es nicht an der Zeit sei, „dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ Mützenich erntete zwar viel Kritik aus der Opposition sowie von den SPD-Koalitionspartnern FDP und Grüne. Bundeskanzler Scholz sprang ihm jedoch umgehend öffentlich bei.
Die Interessen des deutschen Imperialismus
Tatsächlich war der Vorstoß von Mützenich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Kanzleramt abgestimmt — quasi ein „Testballon”, um die öffentlichen Reaktionen auf den Vorschlag einzuschätzen. Dafür sprechen sowohl staats- als auch parteipolitische Gründe: Die SPD hat ein Interesse daran, sich vor der Bundestagswahl 2025 als „Friedenspartei” zu inszenieren und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der AfD damit Stimmen abzujagen. Schon im vergangenen Herbst hatte der frühere brandenburgische Ministerpräsident und SPD-Chef Matthias Platzeck in einem Zeitungsinterview mehr Diplomatie und „Hinterzimmerpolitik“ im Krieg gefordert.
Aus der Sicht der Bundesregierung wiederum ist die Ukraine ein geostrategisches Schlüsselland für den Einfluss Deutschlands in Osteuropa und am Schwarzen Meer. Ein militärischer Zusammenbruch des Landes wäre daher ein Super-GAU — vor allem unter den heutigen Bedingungen, da die deutsch-russischen Beziehungen sich im Vergleich zu den Jahren vor 2022 auf einem absoluten Tiefpunkt befinden. Deutschlands Einfluss in der Ukraine wäre mit einem Schlag weg.
Das Problem ist, dass weitere Waffenlieferungen der USA an die Ukraine alles andere als sicher sind. Die von Deutschland geführten europäischen Länder können die Lücke aber nicht schnell genug schließen, um einen möglichen russischen Vormarsch in diesem Jahr auf kriegerischem Wege zu stoppen. Hinzu kommt, dass die Ukraine und ihre Armee nach zwei Kriegsjahren aufgerieben sind. Das Land hat große Probleme dabei, mehr Soldaten einzuziehen und greift dabei zunehmend zu rabiaten Zwangsmitteln. Etwa 6,5 Millionen Ukrainer:innen sind bereits ins Ausland geflüchtet.
Ukraine-Krieg: EU soll auf „Kriegswirtschaft” umgestellt werden
Russland dagegen konnte die westlichen Sanktionen geschickt umgehen, seine Handelsbeziehungen mit China, Indien, den früheren Sowjetrepubliken und der Türkei ausbauen und damit seine internationale Position stärken. Die russische Kriegswirtschaft ist stabil und produziert monatlich fast dreimal so viel Munition wie die NATO-Staaten zusammen. Die russische Kapitalistenklasse, die im vergangenen Jahr während der Prigoschin-Krise noch in Aufruhr war, wittert heute nach Einschätzung der in Russland gut vernetzten Journalistin Catherine Belton „ihre Chance, eine neue Weltordnung zu entwerfen“.
Vor diesem Hintergrund könnte ein Einfrieren des Ukraine-Konflikts — zum Beispiel mit einem dauerhaften Waffenstillstand — dem deutschen Imperialismus mehr Zeit verschaffen, um seine Stellung in der Ukraine im Rahmen von Wiederaufbauprojekten zu festigen und gleichzeitig seine eigene Rüstungsproduktion hochzufahren. Die USA wüsste Deutschland dabei wohl an seiner Seite: Ein amerikanischer Thinktank hatte schon vor über einem Jahr analysiert, dass es im Interesse der Supermacht liege, einen langwierigen Krieg zu vermeiden. Was damals galt, als die Ukraine im Vorteil zu sein schien, dürfte jetzt, bei den neuen Kräfteverhältnissen, umso mehr gelten — ganz unabhängig davon, ob Demokraten oder Republikaner das Weiße Haus und den Kongress kontrollieren.
Im Zuge eines dauerhaften Waffenstillstands könnte Deutschland aber auch versuchen, seine Beziehungen zu Russland schrittweise zu normalisieren. Wiederaufbau in der Ukraine und Wiederaufbau des Handels mit Russland: Von beidem würden deutsche Unternehmen — gerade angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise — massiv profitieren. Allein das Geschäft rund um den Ukraine-Wiederaufbau wird von der Europäischen Investitionsbank auf ein Volumen von einer Billion Dollar geschätzt: Da lacht das Kapitalisten-Herz und vergisst schnell alles bisherige Gerede von der Verteidigung von „Werten“. Und hier treffen sich auch die Interessen des deutschen Kapitals mit denen der deutschen Sozialdemokratie, die den Geist der Ostpolitik Willy Brandts im Wahlkampf wieder heraufbeschwören will — und deren Funktionär:innen, ähnlich wie CDU- und CSU-Kreise, über Jahrzehnte gute Netzwerke nach Russland aufgebaut haben. Letztere könnten sich im Falle einer politischen Kehrtwende sogar auf den Papst berufen.
Englisches, französisches und polnisches Störfeuer
Im Zusammenhang mit den dargestellten Erwägungen ist auch die Weigerung des Bundeskanzlers zu verstehen, zum jetzigen Zeitpunkt Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern. Inzwischen wurde aus dem Verteidigungsausschuss des Bundestages die Information geleakt, dass die Bundeswehr bei einer solchen Lieferung auch Rechenzentren zur Datenverarbeitung an die Ukraine hätte schicken müssen — und damit die eigene Kriegsfähigkeit Deutschlands eingeschränkt hätte. Spätestens damit entpuppte sich auch der Vorschlag des Vereinigten Königreichs, das Taurus-System im Zuge eines Ringtauschs selbst zu übernehmen und eigene Marschflugkörper an die Ukraine zu geben, als gezielte Provokation.
Dies ist nur ein Beispiel für die Interessenswidersprüche zwischen den NATO-Staaten, die sich im Verlauf des Krieges immer offener zeigen: Auch innerhalb des Bündnisses wollen sich die Imperialisten gegenseitig schwächen. Der französisch-polnische Vorstoß, dass man im Zweifel eigene Bodentruppen in die Ukraine schicken werde, torpediert wahrscheinlich schon jetzt deutsch-russische „Hinterzimmergespräche“ — auch wenn der polnische Außenminister inzwischen wieder zurückgerudert ist.
Der russische Imperialismus setzt in der Ukraine — wie häufig in der Geschichte — auf einen Abnutzungskrieg, auf seine gewaltigen Reserven an Menschen und Material und auf die Widersprüche innerhalb der NATO. Damit scheint er aktuell die Oberhand zu gewinnen. Ein Zusammenbruch der ukrainischen Front, ein russischer Durchmarsch und eine „Implosion“ des Systems in der Ukraine wären unter den jetzigen Bedingungen gerade für den deutschen Imperialismus ein geostrategischer Albtraum. Ob aus dem SPD-Vorstoß eine ernsthafte Initiative für Verhandlungen folgt, bleibt abzuwarten. Im Moment scheint die Zeit jedoch für Russland zu spielen.