Zwei Jahre nach der Eskalation des Kriegs in der Ukraine klafft ein großes Loch im ukrainischen Haushalt, das nur durch westliche Hilfen gefüllt werden kann. Deutschland ist als „Helfer“ zur Stelle und trägt diese Jahr alleine mindestens 8 Milliarden Euro bei, die EU etwa 50 Milliarden über die kommenden vier Jahre hinweg. Doch die steigende Unterstützung kommt nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern macht die Ukraine zu einer Neokolonie der EU. – Ein Kommentar von Gillian Norman.
Als der ukrainische Präsident Selenskij Ende 2023 den Staatshaushalt der Ukraine unterzeichnete, war bereits klar, dass dieser nicht ohne Hilfe anderer Länder zustande kommen kann. Denn in den vergangenen zwei Jahren sind die Staatsausgaben durch die Kriegsführung in ein riesiges Ungleichgewicht gekommen. Im Jahr 2024 werden die Rüstungsausgaben etwa 40 Mrd. Euro und damit die Hälfte der gesamten Haushaltsausgaben ausmachen.
2023 belief sich die Differenz zwischen den eigenen Staatseinnahmen und -ausgaben auf 51 Mrd. Euro. In 2024 soll dieses zu füllende Loch bei mindestens 35 Mrd. Euro liegen. Um einen Zusammenbruch des Haushalts zu vermeiden, werden also weiterhin riesige Mengen an finanziellen, militärischen und humanitären Hilfen benötigt. Seit Februar 2022 wurde bereits Unterstützung in Höhe von mindestens 75 Mrd. Euro in die Ukraine geschickt. Dazu kommen private Spenden und Hilfen außerhalb der Ukraine, allen voran die Unterstützung von ukrainischen Geflüchteten.
Bewilligt sind bereits weitere 70 Mrd. Euro. Einen großen Teil davon machen die vergangenes Jahr angekündigten und vor wenigen Wochen beschlossenen 50 Mrd. Euro durch die EU aus, die über die kommenden vier Jahre verteilt ausgezahlt werden sollen. Dazu kommen jedoch noch bilaterale Hilfen, die größtenteils von Deutschland und den USA kommen. Während in den USA neue Hilfen noch blockiert werden, hatte Deutschland im November beschlossen, seine Ausgaben für die Ukraine von 4 auf 8 Mrd. Euro zu verdoppeln.
Ukraine-Aufrüstung: Deutschland und USA kündigen weitere Militärhilfen für Ukraine an.
Bei diesen hohen Ausgaben stellen sich verschiedene Fragen: Warum nehmen Länder wie Deutschland eine so hohe finanzielle Belastung auf sich? Inwiefern kann die Ukraine noch ein unabhängiges Land sein, wenn sogar die Staatsbediensteten aus dem Ausland bezahlt werden? Um diese Fragen zu klären, muss man einen Blick auf die Entwicklungen in der Ukraine und die deutsche Geo-Strategie werfen.
Steigender Einfluss der EU in der Ukraine seit 2014
Im November 2013 begann in der Ukraine eine Protestwelle, nachdem die pro-russische Regierung ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen wollte. Eine führende Kraft waren dabei faschistische Kräfte wie der Rechte Sektor oder die Partei Swoboda. Auf die Proteste folgte zudem eine Welle faschistischen Terrors. In der ostukrainischen Stadt Odessa stürmten bewaffnete Einheiten aus Kiew das Gewerkschaftsgebäude und töteten zwischen 40 und 60 Menschen.
Mit dem Putsch im Frühjahr 2014 und der Einsetzung des pro-europäischen Rüstungsunternehmers Petro Poroschenko als Präsident, kam auch Swoboda an die Macht und stellte mit Oleksandr Sytsch das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten. Auch der von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstütze Ex-Boxer Vitali Klitschko nahm in der Folge als Bürgermeister von Kiew eine wichtige Rolle im pro-europäischen Kurs der ukrainischen Regierung ein.
Die neue Regierung kündigte kurz nach ihrer Machtergreifung an, die Anbindung an die EU und NATO voranzutreiben. Im Auftrag des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden in der Folge strikte Sparprogramm durchgesetzt und der Sozialstaat zusammengekürzt. Zudem wurde angekündigt, Verträge mit Russland aufzukündigen, beispielsweise zur Stationierung russischer Streitkräfte auf der Halbinsel Krim.
Russland reagierte bereits im Februar 2014 mit der Besetzung der Halbinsel. In den benachbarten Regionen Luhansk und Donezk kam es zudem zu pro-russischen Massenprotesten und der Ausrufung von „unabhängigen“ Volksrepubliken. Die hauptsächlich russisch geprägte Bevölkerung im Osten des Landes war mit dem pro-europäischen Kurs nicht einverstanden.
Mit den daraufhin begonnenen Kriegseinsätzen der ukrainischen Armee in den ausgerufenen Volksrepubliken begann auch der militärische Einfluss der NATO zu wachsen. Die USA und andere westliche Länder stellten sowohl Militärberater:innen, als auch Waffen zur Verfügung.
Unterstützung der Ukraine seit der russischen Invasion
Mit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 intensivierte sich auch die Unterstützung durch Deutschland. In kürzester Zeit wurden Milliardenbeiträge locker gemacht, um Gelder und Waffen in die Ukraine zu schicken. Besonders die deutschen Rüstungsunternehmen wie ThyssenKrupp oder Rheinmetall konnten sich dabei an explodierenden Börsenwerten erfreuen. Mit Voranschreiten des Kriegs wurden dann mehr und mehr schwere Waffen geliefert, im März 2023 sogar Leopard-2-Panzer aus dem Bestand der Bundeswehr.
Zu Anfang der Eskalation nahmen die USA noch die führende Unterstützerrolle ein, doch spätestens mit dem Beginn des zweiten Kriegsjahrs wurden die Stimmen nach einem Rückzug lauter. Die „RAND-Corporation“ als US-amerikanischer Think Tank kam Anfang 2023 in einem Strategiepapier zu dem Schluss, dass die USA kein Interesse an einem langwierigen Kriegsgeschehen haben könne und der Fokus auf den übergeordneten Krieg mit China gerichtet werden müsse.
In der zweiten Hälfte des Jahres 2023 und mit den Diskussionen über den deutschen Bundeshaushalt sowie der Blockade der Ukraine-Hilfen durch die Republikaner im US-Senat, stimmten sich deutsche Politiker:innen schnell auf eine drastische Erhöhung der Militärhilfen für die Ukraine ein. Mitte November bestätigte der Kriegsminister Pistorius dann die Verdopplung der Militärhilfen von 4 auf 8 Milliarden Euro für das Jahr 2024.
Bedeutung Osteuropas für die deutsche Geostrategie
Diese bereitwillige Unterstützung ist jedoch kein Geschenk der deutschen Regierung an ihre ukrainischen Freund:innen. Der Grund, warum der Krieg in der Ukraine eine große Beachtung und Schützenhilfe bekommt, liegt in seiner geostrategischen Bedeutung für die EU und besonders Deutschland.
Deutschland konnte seinen Status als Führungsmacht in Europa in den letzten Jahrzehnten stärker manifestieren. Doch um sich aus dem Schatten der USA zu bewegen und auch weiterhin den europäischen Konkurrenten wie Frankreich und Großbritannien überlegen zu sein, stellt die Ausbreitung nach Osten eine wichtige Stütze dar.
Grund dafür ist unter anderem die geographische Lage der Ukraine auf dem eurasischen Kontinent, sowie die landschaftliche Beschaffenheit mit der osteuropäischen Ebene ohne Gebirge. Die Ukraine stellt nach dem amerikanischen Geo-Strategen Brzezinski dadurch einen sogenannten „pivot state“ dar, also einen Staat, der ein wichtiger „Drehpunkt” ist. Das bedeutet konkret, dass die Ukraine für Russland ein Einfallstor für Konkurrenten aus dem Westen darstellt und gleichzeitig für Deutschland eine Möglichkeit bietet, seinen Einfluss in Richtung Asien zu erweitern und zu stabilisieren.
Neokoloniale Ausbeutung osteuropäischer Länder
Nicht nur die Ukraine spielt dabei eine wichtige Rolle. Auch diejenigen Länder sind von geostrategischer Bedeutung, die im Südosten Europas liegen und für Deutschland einen Zugang nach Westasien sowie eine wichtige Rohstoff- und Arbeitskraftquelle darstellen.
Einerseits werden Länder wie Bosnien-Herzegowina, Kosovo oder Rumänien durch die EU in einer Abhängigkeit von Deutschland gehalten. Andererseits wird dies auch mit militärischen Einsätzen aufrecht erhalten. 1999 wurde beispielsweise unter dem Grünen-Außenminister Joschka Fischer der Krieg der NATO im Kosovo und Serbien begonnen, und serbische Städte wurden bombardiert. Das Ergebnis waren über 13.000 Tote und keine Fortschritte in der nationalen Frage des Kosovo. Bis heute ist die Bundeswehr mit der KFOR-Mission in der Region stationiert.
In Bosnien-Herzegowina hat Deutschland sogar einen eigenen „Kolonialherren”. Der Politiker Christian Schmidt hat dort das Amt des „hohen Repräsentanten“ inne und ist der mächtigste Mann im Land. Er kann das Land faktisch regieren, hat Vollmachten, Gesetze zu erlassen und hohe Beamte oder sogar gewählte Politiker zu entlassen.
Wie sich Christian Schmidt in Bosnien und Herzegowina als Kolonialherr aufführt
Botschafter für den Wiederaufbau im Interesse des deutschen Kapitals
Auch in der Ukraine werden Maßnahmen getroffen, um sicherzustellen, dass die deutschen Konzerninteressen durchgesetzt werden und sich die aktuellen Finanzspritzen in der Zukunft auszahlen werden. Seit Juli 2023 ist der Diplomat und Lobbyist Martin Jäger neuer Botschafter der Bundesregierung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Nach Stationen im Auswärtigen Amt und im Bundeskanzleramt zog es ihn 2008 zum Autokonzern Daimler (heute: Mercedes-Benz Group). Bis 2013 war er dort Cheflobbyist und Leiter der Abteilung „Global External Affairs and Public Policy”. Seine Zeit bei Daimler beendete er im November 2013 mit der Einberufung als deutscher Botschafter in Afghanistan ab September 2013. Danach bekleidete er diverse Ämter als Pressesprecher und Staatssekretär in verschiedenen (Bundes-)Ministerien und wurde 2021 zum deutschen Botschafter im Irak einberufen. Im Dezember 2013 hatte er in einem ZEIT-Interview unmissverständlich erklärt: “Ich bin verpflichtet worden, um für Daimler weltweit politische Interessenvertretung zu organisieren.”
Nachdem die NATO unter Führung der USA Afghanistan zerbombt hatte, war es Zeit für den Wiederaufbau, in dem der Lobbyist ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. Nun nimmt er diese Rolle auch in der Ukraine ein. Im vergangenen Jahr wurden bei einer Reise von Wirtschaftsminister Habeck bereits erste Pläne geschmiedet, wie die deutsche Bau-, Pharma- und Chemieindustrie in der Ukraine investieren und profitieren könnten. Auch eine engere Zusammenarbeit im Energiesektor ist bereits geplant. Diese Pläne durchzusetzen, wird in der kommenden Zeit eine wichtige Aufgabe von Jäger sein.
Mit den Zahlungen in Milliardenhöhe stabilisiert die deutsche Regierung in der Ukraine ihre Herrschaftsansprüche weiter und wird in Zukunft ein großes Mitspracherecht bei den politischen Entscheidungen im Wiederaufbau der Ukraine haben. Denn ein Land, das ohne solche Zahlungen in sich zusammenbrechen würde, kann man in keiner Welt als „unabhängig“ oder „frei“ bezeichnen. Stattdessen entwickelt sich die Ukraine wie andere osteuropäische Länder immer stärker zu einer Neokolonie der EU – unter der Führung der deutschen Regierung.