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Samstag, Juli 27, 2024
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    ESC: Palästina-Solidarität und die deutsche Staatsräson

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    Rund um den Eurovision Song Contest in Schweden kam es zu großen Protesten. Grund war die Teilnahme der israelischen Kandidatin, die einen Medientrubel auslöste. – Ein Kommentar von Anna Müller.

    Vom 7. bis 11. Mai hat in der schwedischen Stadt Malmö der Eurovision Song Contest (ESC) stattgefunden. Rund um den Wettbewerb gab es hitzige Diskussionen um den Auftritt der israelischen Kandidatin Eden Golan. Bereits im März sorgte ihr geplanter Song für Komplikationen: Das eigentliche Lied, das Golan singen sollte, trug den Titel „October Rain“ und bezieht sich offensichtlich auf den 7. Oktober 2023 und insbesondere den Angriff der Hamas auf das „Supernova-Festival” in der Negev-Wüste in Israel.

    Aufgrund der starken Gegenreaktionen wurde das Lied mit der Begründung, dass es nicht politisch neutral sei, gesperrt. Anstelle des kontroversen Songs wurde ein neuer geschrieben, bzw. der alte angepasst. Der neue Song namens „Hurricane“ wurde dann zugelassen.

    Doch auch unmittelbar während des ESC kam es zu Turbulenzen: Zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs wurde ein Teilnehmer ausgeschlossen. Dabei handelte es sich um den Künstler Joost Klein aus den Niederlanden, der einer Kamerafrau die Kamera weggeschlagen haben soll. Aus anderen Quellen wird hingegen berichtet, dass er die Kamera nicht berührt habe. Die Verantwortlichen des vorläufigen Ausschlusses betonten bei alledem, dass es nichts mit seiner Solidarität gegenüber Palästina zu tun habe.

    Palästina-Solidarität rund um den Wettbewerb

    Diese äußerten mehrere Teilnehmer:innen, unter anderem die teilnehmende Person aus der Schweiz, Nemo, die den ESC auch gewann. Auch Sänger:innen aus der Schweiz, Griechenland, Norwegen, Irland und Lettland bekundeten ihre Solidarität mit Palästina und forderten dementsprechend zum Teil ebenfalls den Ausschluss Israels. Vertreter:innen der genannten Länder nahmen entweder nicht an der Flaggenparade teil oder traten von Aufgaben zurück, um die Veranstaltung zu boykottieren. Das tat unter anderem die Norwegerin Alessandra Mele, die eigentlich die Punkte verlesen sollte.

    Auch von Zuschauer:innen in der Arena gab es Protest. Das Ausbuhen und das Rufen von Parolen wie „Free Palestine“ war sogar in den Fernseh-Übertragungen zu hören. In einer von einer Gewerkschaft organisierten Aktion wurde außerdem die Übertragung des Halbfinales am Donnerstagabend unterbrochen, um den Genozid in Gaza zu verurteilen. In der Unterbrechung wurde die Meldung ausgestrahlt: „Dies ist eine Gewerkschaftsaktion. Wir verurteilen die Menschenrechtsverletzungen durch den Staat Israel. Außerdem zerstört der Staat Israel die Pressefreiheit. Deshalb unterbrechen wir die Sendung für einen Moment“. Die Nachricht schloss mit den Hashtags „CeasefireNow“ und „StopGenocide“.

    Tausende Palästina-solidarische Demonstrant:innen beantworteten die Teilnahme Israels zudem mit zahlreichen Aktionen in Schweden: Am finalen Tag kam es zu einer Blockade der Arena, bei welcher der Ausschluss Israels vom ESC gefordert wurde. Aufgrund des immer noch anhaltenden und sich durch die israelische Bodenoffensive in Rafah verschärfenden Völkermords am palästinensischen Volk kritisierten die Aktivist:innen die Teilnahme des Landes.

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    Sie forderten allerdings nicht nur den Ausschluss des Apartheidsstaats vom ESC, sondern riefen zum allgemeinen Boykott Israels, sowie dem Ende der Besatzung im Gazastreifen auf. Mit Schildern und der Aufschrift „Eurovision is celebrating Genocide“ oder „ Welcome to Genocide Song Contest“ machten sie ihre Wut auf den ESC sowie ihren Standpunkt deutlich. Unter den Demonstrant:innen befanden sich auch bekannte Personen der Palästina-solidarischen Bewegung, wie zum Beispiel Greta Thunberg, die am letzten Tag des Wettbewerbs von der schwedischen Polizei abgeführt wurde.

    Doch nicht nur die Taten Israels selbst standen in der Kritik. Viele betonten vor allem die Doppelmoral, die der ESC an den Tag lege. Denn seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist Russland z.B. nicht mehr teilnahmeberechtigt. Der westasiatische Staat darf jedoch weiterhin an dem europäische Wettbewerb teilnehmen. Das ist jedoch kein Wunder, denn Israel ist einer der wichtigsten Verbündeten von Staaten wie Deutschland, woran auch die Kriegsverbrechen in Gaza nichts ändern. Auch das eigene Framing des ESC als „unpolitischer“ Wettbewerb ist reine Augenwischerei.

    Zionistische Gegenreaktionen

    Doch auch Zionist:innen hielten ihre Meinung nicht zurück. So wurden das Ausbuhen von Eden Golan als antisemitisch und die Demonstrant:innen, die vor der Arena Parolen skandierten, als „Israelhasser“ mit „Hassparolen“ bezeichnet. Jan Böhmermann und Olli Schulz moderierten für den österreichischen Sender FM4. „Es wird gebuht, weil Israel kommt“, äußerte Böhmermann, während Schulz die Buhrufe mit den Worten „Ach, fickt euch“ beantwortete.

    Diese Worte trafen aber bei vielen nicht auf Empörung, sondern auf große Zustimmung. „Olli Schulz fand in dem Moment, als Israel ausgebuht wurde, die richtigen Worte“, so „ÖRR Antisemitismus Watch“ auf X/Twitter. Während Palästina-solidarische Aktivist:innen als hasserfüllt dargestellt werden, scheint es für viele akzeptabel, wenn Moderatoren Teilnehmer:innen des Publikums, die ihren Protest in der Arena zeigen, beleidigen.

    Wie bei der unberechtigten und falschen Gleichsetzung von Jüd:innen mit dem Staat Israel und der Gleichsetzung von Kritik an diesem Staat mit Antisemitismus kam es auch zu fragwürdigen Schlussfolgerungen bei der Punktevergabe. Jedes Land kann beim ESC 12 Jury-Punkte und 12 Publikumspunkte an andere Länder vergeben. Deutschland vergab alle Publikumspunkte an Israel, was von Zionist:innen als Zeichen gegen Antisemitismus und als Beweis dafür gewertet wurde, dass „Deutschland aus seiner Geschichte gelernt hat“.

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    Diese Annahmen entbehren jedoch jeglicher Grundlage. Zu denken, dass ein Publikumsvoting bei einem Musikwettbewerb als Aufarbeitung der industriellen Vernichtung von Millionen von Menschen gewertet werden kann, ist falsch und gefährlich. Schlussendlich sind solche irrationalen Schlussfolgerungen das Ergebnis der Verwässerung des Antisemitismus-Begriffs im Zuge der Verteidigung der israelischen Besatzung und des Genozids in den letzten Monaten. Wer aus der deutschen Geschichte tatsächlich etwas gelernt hat, stellt sich gegen den Völkermord an den Palästinenser:innen und verteidigt ihn nicht aus „deutschen Schuldgefühlen“ aufgrund des Holocausts heraus.

    • Autorin bei Perspektive seit 2024. Schülerin aus Oberfranken, interessiert sich für Klassenkämpfe weltweit und die Frauenrevolution. Denn wie Alexandra Kollontai damals schon erkannte: Ohne Sozialismus keine Befreiung der Frau – ohne Befreiung der Frau kein Sozialismus!

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