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Montag, April 29, 2024
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    Warum die IHRA-Definition von Antisemitismus auch jüdischen Arbeiter:innen schadet

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    Im Mai wurden in Berlin wieder mehrere Demonstrationen zum Gedenken an die Nakba, die Vertreibung hunderttausender Palästinenser:innen, verboten. Mögliche antisemitische Parolen werden immer wieder als Grund für die Repression genannt. Doch welche Definitionen liegen dem zugrunde und sind diese wirklich hilfreich im Kampf gegen Antisemitismus? – Ein Kommentar von Gillian Norman.

    Bereits vergangenes Jahr wurden zum Jahrestag der Nakba (dt. „Katastrophe“) jegliche Demonstrationen zum Gedenken an die Vertreibung von 800.000 Palästinenser:innen und der Zerstörung von über 500 Dörfern verboten. Auch dieses Jahr genehmigte die Berliner Polizei zum 75. Jahrestag keine der Demonstrationen, die von verschiedenen Organisationen angemeldet wurden.

    Am folgenden Wochenende sollte deshalb eine Demonstration gegen diese Repression stattfinden, die ebenfalls nicht genehmigt wurde. Eine Versammlung der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ wurde zwar genehmigt, nach kurzer Zeit jedoch von der Polizei gekesselt. Sowohl palästinensische als auch jüdische Aktivist:innen wurden festgenommen.

    Nach einer Demonstration Mitte April wurde bereits von verschiedenen Politiker:innen ein Verbot der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) und dem Gefangenennetzwerk Samidoun gefordert. Grund war eine Demonstration, bei der es den Vorwurf einer antisemitischen Parole einer Einzelperson gab.

    Dazu direkt  die Klarstellung von Samidoun: „Die Person, die diese Aussage angeblich rief, ist im Video nicht zu sehen. Keine andere Person schloss sich ihr an, der Ruf kam weder von der Spitze der Demonstration noch über das Mikrofon.” Und fügte weiter hinzu, dass die Person „nichts mit der Organisation, Leitung, Führung oder dem politischen Rahmen der Mobilisierung zu tun“ hatte und  vor allem, dass die Aussage keinesfalls die „klare antirassistische, antikoloniale Vision für ein befreites Palästina“ widerspiegele.

    Antisemitismusvorwürfe gibt es auch gegen die Bewegung “BDS” (Boycott, Divestment, Sanctions), welche die imperialistische und koloniale Politik Israels mit Boykottaufrufen und Forderungen nach Sanktionen und Kapitalabzug schwächen will. Daraufhin wurde vom Bundestag im Mai 2019 durch einen gemeinsamen Beschluss von SPD, CDU, FDP und Grünen festgelegt, dass diese Bewegung vom Empfang jeglicher öffentlichen Gelder oder anderer Unterstützung ausgeschlossen werde und sich auch die Länder, Städte und Gemeinden dem anschließen mögen.

    Doch worin besteht  überhaupt die Grundlage, auf der diese Entscheidungen gefällt werden?

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    IHRA-Definition und Jerusalemer Erklärung

    Am 20. September 2017 übernahm die Bundesregierung die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der “International Holocaust Remembrance Alliance” (IHRA) und wies ihre verschiedenen Ressorts an, auf dieser Grundlage zu handeln. Auch sonst begegnet man im Internet oft dem Verweis auf deren Definition. Schaut man sich diese grundlegende Definition an, stellt diese auch erst einmal kein Problem dar. Bei den Beispielen, die mitgeliefert werden, wird das Ganze jedoch schon etwas unklarer.

    Dort findet man unter anderem folgendes Zitat als Beispiel für Antisemitismus: „Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

    Eine sehr schwammige Formulierung, die schnell zur Legitimation der imperialistischen Politik Israels herhalteen kann, denn, was mit „Unterfangen“ gemeint ist, bleibt unklar. Schaut man sich aber die Staatsgründung Israels oder dessen heutige Politik an, erkennt man, dass diese eben durchaus auf imperialistischer Ausbreitung, die durch Rassismus legitimiert wird, beruht.

    So steht sogar im siebten Artikel des Grundgesetzes, dass die jüdische Besiedlung weiter vorangetrieben werden soll – auf Kosten der im Westjordan lebenden Palästinenser:innen, die aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben werden. Doch sogar von der UN wird die Besetzung des Westjordanlands durch Israel als völkerrechtswidrig angesehen.

    Ein weiteres Beispiel der IHRA sagt, dass die „Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird“, antisemitisch sei. Amos Goldberg, Professor der Hebräischen Universität in Jerusalem, entgegnet darauf in einem Interview mit der Deutschen Welle: “Man darf über jedes Land sagen, dass es rassistisch ist – außer über Israel. Das ist ein doppelter Standard! Kein anderes Land der Welt wird von so einer Firewall beschützt wie Israel, die jegliche substantielle Kritik verhindert”.

    Als Antwort auf die IHRA-Definition haben Goldberg und 200 weitere Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Antisemitismusforschung, Judaistik und Nahoststudien eine neue Erklärung verfasst: die sogenannte “Jerusalemer Erklärung“. Diese definiert – im Gegensatz zur IHRA-Definition – nicht nur, „was antisemitisch ist, sondern auch, im Kontext von Israel und Palästina, was nicht per se antisemitisch ist“. Weder die Kritik an Israel oder dem Zionismus seien antisemitisch, noch seien es die Slogans, die Gleichberechtigung „vom Fluss bis zum Meer“ fordern, ebenfalls nicht Boykottaufrufe gegenüber Israel.

    Die deutsche „antirassistische“ “Amadeu-Antonio-Stiftung” äußerte sich daraufhin wütend gegenüber der Jerusalemer Erklärung. Diese sei nur ein politisches Manifest, dass wissenschaftlich inkohärent sei und die Täter-Opfer-Umkehr legitimiere.

    Zionismus, Israel und nationale Selbstbestimmung

    Auch wenn die IHRA-Definition und ihre Verfechter wie die Amadeu-Antonio-Stiftung Kritik am Zionismus und dem Staat Israel nicht wortwörtlich ablehnen, ist dies doch die gängige Praxis von Menschen, die sich auf diese Definition berufen.

    Aber was ist überhaupt das Problem an Israels Politik und dem Zionismus? Kann es nicht doch eine friedliche Koexistenz zwischen einem zionistischen Israel und Palästinenser:innen geben?

    Im Grundgesetz Israels findet man zum Thema nationale Selbstbestimmung folgenden Satz: „Die Verwirklichung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzig für das jüdische Volk“. Was hier sofort klar wird: Im Kapitalismus kann man sich die Begriffe Nation und nationales Selbstbestimmungsrecht so hinbiegen, wie es einem gerade passt. Denn der gleichen Religion anzuhängen, macht noch lange keine Nation aus.

    Eine Nation ist konkreter definiert als eine stabile Gemeinschaft, die sich auf der Basis einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Territoriums und gemeinsamen wirtschaftlichen Lebens entwickelt und daraus auch eine gemeinsame Kultur entsteht. In Israel hat sich mittlerweile – nach 75 Jahren staatlicher Exististenz und Besatzungspolitik eine eigentümlich verformte “eigene” Auffassung von Nation entwickelt – doch die israelische Nation heute besteht nun einmal aus Jüd:innen, Muslim:innen, Christ:innen, Atheist:innen und weiteren.

    Tatsächliche jüdisch geprägte Nationen gab es z.B. in Russland und Polen zur Zeit des Zarenreichs: Dort waren die Jüd:innen im Gegensatz zu den Jüd:innen West- und Mitteleuropas nicht integriert und hatten sowohl eine eigene Sprache, das Jiddische, sowie zusammenhängende Siedlungsgebiete. Teile von ihnen zogen nach dem Ende des ersten Weltkriegs unter dem Schutz der Besatzungsmacht Großbritannien nach Palästina, Teile schlossen sich im Zuge der sozialistischen Revolution dem Kampf für eine befreite Gesellschaft im Kommunismus an.

    In dieser Zeit stellte der noch junge Zionismus eine kleinbürgerliche und nationalistische „Alternative“ dar. Diese basiert auf einer idealistischen Weltanschauung, die die rassistische Unterdrückung von Jüd:innen als alleinstehendes und unüberwindbares Phänomen darstellt. Doch auch frühere Formen des Antisemitismus, beispielsweise im römischen Reich, waren ein Ausdruck der Klassenwidersprüche und sollten die christliche Herrschaft legitimieren. Mit der Entstehung des Kapitalismus wurde sowohl dem Antisemitismus als auch anderen Formen des Rassismus durch die sozialdarwinistische Rassentheorie ein neues Gewand gegeben.

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    Aufgrund des erstarkenden Antisemitismus vor und nach dem ersten Weltkrieg sollte der Zionismus Jüd:innen eine sichere Heimat geben. Der Plan war eine Rückkehr in die „Heimat“ nach 2.000 Jahren. Dafür wurden Jüd:innen aus ganz Europa angeworben. Erst während des Holocausts und danach konnten größere Teile der Jüd:innen von dieser Idee überzeugt werden. 1948 wurde dann der Staat Israel gegründet, mit Hebräisch als Staatssprache, auch wenn es zu dieser Zeit hauptsächlich von jüdischen Akademiker:innen gesprochen wurde.

    Wie Ben Gurion, einer der bekanntesten Vertreter:innen des Zionismus und Premierminister Israels von 1948 bis 1963, ganz offen kommunizierte, war und bleibe die Vertreibung der Palästinenser:innen geradezu eine Notwendigkeit für einen zionistischen Staat. So sagte er unter anderem: „Ich bin für zwangsweise Umsiedlung. Ich kann nichts Unmoralisches darin sehen“.

    Keine Lösung im Kapitalismus

    Die gesamte Diskussion um den Staat Israel lässt einen Aspekt – wie bei so vielen Themen – gezielt aus. Auch in Israel existiert der Kapitalismus und es gibt verfeindete Klassen. Jüdische Arbeiter:innen werden von jüdischen Kapitalist:innen ausgebeutet und unterdrückt. Unterdrückt wird auch der Kampf von fortschrittlichen Kräften innerhalb Israels. Das zeigte auch die geplante Justizreform, die die richterliche Kontrolle des Parlaments aufheben und den rechten Kräften mehr Macht geben sollte. Aufgrund großer Proteste wurde sie vorerst gestoppt.

    Die Proteste in Israel: Klassenkampf oder bürgerlicher Zwist?

    So wie es auch hier in Deutschland unser Ziel ist, das Klassenbewusstsein der Arbeiter:innen zu stärken, muss das auch das Ziel israelischer und palästinensischer Sozialist:innen sein. Denn letztendlich wird kein von oben diktierter Teilungsplan Gerechtigkeit oder Frieden bringen. Die Arbeiter:innen beider Länder müssen gemeinsam gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen – für die nationale Selbstbestimmung von Israelis und Palästinenser:innen in einem oder auch zwei säkularen Staaten.

    Dabei nutzt die IHRA-Definition, die selbst fortschrittlichen Jüd:innen, wie z.B. den Aktivist:innen von „Jüdische Stimme“, Antisemitismus vorwirft, nur den rückschrittlichen Kräften zur Legitimierung einer ausbeuterischen Politik. Auch Professor Amos Goldberg sieht sie als Werkzeug, um „jegliche Form von wesentlicher Kritik an israelischer Politik mundtot zu machen und das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken”.

    Und dass die IHRA-Definition nicht wirklich hilft, um tatsächlichen Antisemitismus von Faschist:innen zu bekämpfen, zeigt nicht zuletzt die Erinnerung daran, dass beispielsweise auf Demonstrationen der Querdenker-Bewegung regelmäßig und ungestraft Davidsterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen wurden. Vorgegangen wurde dagegen nur in den wenigsten Fällen, stattdessen gab es regelmäßig Freisprüche.

    • Schreibt seit 2022 für Perspektive und ist seit Ende 2023 Teil der Redaktion. Studiert Grundschullehramt in Baden-Württemberg und geht früh morgens gerne eine Runde laufen.

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