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Donnerstag, Juni 27, 2024
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    Das EU-Parlament: Wie viel Demokratie steckt drin?

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    Ähnlich wie vor fünf Jahren wird an allen Ecken und Enden von der wichtigsten Wahl seit Jahrzehnten gesprochen. Mit ein paar Zetteln an der Wahlurne sollen jetzt alle Menschen in Europa zum Sieg gegen den Faschismus beitragen und zu einer zukunftsfähigen “Europäischen Union”. Doch wie viel Macht hat eigentlich das Europaparlament, und wie viel Demokratie steckt in dem Gremium? – Ein Kommentar von Tabea Karlo.

    Blickt man sich zurzeit auf der Straße um, schaut man auf die üblichen ausdrucksschwachen Wahlplakate. Und lauscht den Reden von Politiker:innen auf Demonstrationen gegen die AfD, dann fühlt man sich stark zurückversetzt ins Jahr 2019. Schon damals schwor uns die Politik die wichtigste EU-Wahl seit Jahrzehnten ein. Wir sollten ein konsequentes Zeichen gegen Rechts und vor allem für die Rettung der Demokratie setzen und das am besten an der Wahlurne.

    Kampf gegen Faschismus an der Wahlurne?

    Heute, fünf Jahre später, sind faschistische und rechte Kräfte so stark auf dem Vormarsch wie lange nicht mehr. Ursula von der Leyen (CDU), Präsidentin der EU-Kommission, fantasiert offen über eine Kooperation mit der rechten ID-Fraktion. Und kuschelt dabei gern mit Faschistinnen wie der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni.

    CDU, SPD und Grüne lassen sich währenddessen als Werbung für die EU-Wahl auf Anti-AfD-Demonstrationen ablichten und wettern gegen den Faschismus. Hinten herum aber bringen sie in der EU mit der GEAS-Reform die restriktivsten Asylgesetze seit Jahrzehnten durch, eine Einschränkung des Rechts aufs Asyl, wie es sie noch nie gegeben hat.

    EU-Parlament winkt GEAS-Reform durch: Stärkster Eingriff ins Asylrecht seit Gründung der EU 

    Im Kampf gegen den Faschismus sind wir durch die Wahlen also leider kein Stück vorangekommen. Auch die Rettung oder eher Schaffung einer wahrlichen Demokratie scheint weiterhin in weiter Ferne zu liegen. Beim genaueren Betrachten des Gremiums fällt allerdings auf, dass die „Rettung der Demokratie“ bei der EU-Wahl zu propagieren von Anfang an eher ein billiger Taschenspielertrick war.

    Demokratie in der EU?

    Wer echte oder ansatzweise Demokratie sucht, ist beim EU-Parlament ganz grundsätzlich an der falschen Adresse. Das Parlament stellt zwar das einzige, direkt gewählte Organ der EU dar – das war es dann aber schon auch mit der Demokratie. Ansonsten ist das Gremium leider ziemlich rechtlos.

    Im Wesentlichen hat das Parlament vier Aufgaben, die es größtenteils aber noch nicht einmal alleine erledigen darf:

    1. Wahl der Präsidentin für die EU-Kommission und deren Mitglieder

    Neben dem Europäischen Parlament gibt es die EU-Kommission. Dies ist ein Gremium mit weit mehr Rechten, z.B. das Einzige in der EU mit dem Recht, Gesetze einzubringen. Nach der Europawahl schlägt der Europäische Rat – das ist das dritte Gremium bestehend aus den Staats- und Regierungschefs – einen Kandidaten oder eine Kandidatin für das Amt des:r Präsident:in der EU-Kommission vor. Diese Person muss dann vom Europäischen Parlament mit absoluter Mehrheit bestätigt werden.

    Nach dem Vertrag von Lissabon muss der Europäische Rat dabei eigentlich das Ergebnis der Europawahl berücksichtigen. 2019 wurde das aber einfach ausgehebelt. Der Europäische Rat zauberte nach der Wahl die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen aus dem Hut – bis dato war die deutsche Politikerin nicht einmal Teil des EU-Parlaments. Die Spitzenkandidat:innen, die in der EU-Wahl aufgestellt wurden, interessierten plötzlich niemanden mehr.

    Die Zusammenstellung des Kommissionsteams obliegt dann der:m Kommissionspräsident:in, die Nomierung der einzelnen Komissar:innen erfolgt dabei allerdings ebenfalls nicht durch das EU-Parlament, sondern die Nationalstaaten. Das EU-Parlament muss die Kommission lediglich in einem letzten Schritt als Gesamtheit billigen.

    2. “Mitwirkung” an der Gesetzgebung

    Das EU-Parlament darf zwar an der Gesetzgebung mitwirken, das Initiativrecht liegt allerdings bei der Europäischen Kommission. Das gewählte Gremium darf also keinerlei Gesetze vorschlagen.

    3. “Demokratische Kontrollrechte”

    Die Europäische Kommission und der Europäische Rat müssen dem Parlament regelmäßig darüber berichten, was sie tun. Das EU-Parlament diskutiert dann in seinen Sitzungen darüber und kann im Anschluss Bedenken und Misstrauen äußern. Die einzige sonstige Abstufung ist das Absetzen der Kommission. Dazu bedarf es eines Misstrauensantrags, der dann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln angenommen werden muss. Seit dem Bestehen des Parlaments gab es sieben solche Anträge, keiner davon ist durchgekommen.

    4. Genehmigung des EU-Haushalts.

    Das Europaparlament darf den Haushaltsentwurf mitbestimmen und so bedingt darüber entscheiden, wofür die Gelder verwendet werden. Am Ende unterliegt es aber auch hier der Begrenzung, dass Änderungen und Zustimmung/Ablehnung des Haushaltsentwurfs nur gemeinsam mit dem Europäischen Rat möglich sind.

    Das sind also die wesentlichen Aufgaben des Parlaments, die uns äußerst plastisch die Einschränkungen des Gremiums aufzeigen. Letztlich ist das gesamte EU-Parlament den Nationalstaaten in Form des Europäischen Rates komplett untergeordnet.

    Wie viel Demokratie kann die EU?

    Stellen wir fest, dass das Europaparlament zwar ein gewähltes, aber machtloses Gremium ist, das uns im Kampf um mehr Demokratie wenig bringt, dann führt das bei vielen vor allem zu noch viel mehr Fragezeichen und Frustration.

    Denn wie kann ich mitbestimmen in einer EU, in der das einzige, direkt demokratisch legitimierte Gremium eigentlich nichts zu sagen hat? Wie damit umgehen, dass die eigene Stimme an der Wahlurne kaum Wert besitzt?

    Kritiker:innen werden an dieser Stelle häufig von Parteien wie Volt und Co. eingefangen, die mehr Beteiligung innerhalb des bestehenden Systems fordern. Bleibt man innerhalb dieser Grenzen stehen, dann scheint der „logische“ Schluss  aus dem Umstand, dass das EU-Parlament kaum Rechte hat, eben mehr “Rechte” zu fordern.

    Europäische Union – Eine Frage der Werte?

    Damit werden mehrere wesentliche Fragen allerdings überhaupt nicht berührt.

    Erstens: was ist die Ursache dafür, dass alle essenziellen Positionen in der EU nicht gewählt werden und das einzige gewählte Gremium nur sehr wenig Rechte hat?

    Zweitens – und das ist im Grunde genommen die essentiellere Frage: was halten wir eigentlich von der EU? Ist das Gremium, dessen Wahl uns als alternativlos präsentiert wird, überhaupt in unserem Interesse?

    Man wird eingespannt in die vermeintliche Reparatur eines politischen Systems, bevor man überhaupt Zeit hatte, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das System überhaupt kaputt ist und einfach nicht nach unseren Interessen strukturiert ist.

    Denn genau das ist der Fall bei der Europäischen Union als Ganzem und in Folge auch bei dem Europaparlament: Die EU wurde, aller Propaganda zum Trotz, nicht als “Werteunion” gegründet, sondern ihre Wurzeln liegen in einem Wirtschaftsbündnis kapitalistischer Staaten – ein Bündnis, das vor allem von Staaten mit viel Macht wie Deutschland ausgenutzt wird, um sich weniger Mächtige unterzuordnen.

    Es wäre doch sehr realitätsfern, sich der Vorstellung hinzugeben, dass Gremien wie das Europäische Parlament und ihre Struktur aus einem Zufall heraus entstanden sind. Sondern sie ergeben sich aus der Funktion der Europäischen Union. Ihre Demokratie- und Rechtslosigkeit ist dem zufolge auch kein Fehler, der irgendwem aus Versehen beim Austüfteln einer eigentlichen „Superdemokratie“ unterlaufen ist. Sondern es ergibt sich aus seiner Funktion eines Wirtschaftsbündnisses in einer Klassengesellschaft.

    Statt sich abzurackern ein Gremium zu reparieren, das nie kaputt war, lohnt es sich eher, sich der Frage zu widmen, wie wir unserer Stimme tatsächlich einen Wert verleihen können. Und das geschieht nicht mit der Abgabe eines kleinen Zettelchens an der Wahlurne alle paar Jahre.

    • Perspektive-Autorin seit 2017. Berichtet schwerpunktmäßig über den Frauenkampf und soziale Fragen. Politisiert über antifaschistische Proteste, heute vor allem in der klassenkämperischen Stadtteilarbeit aktiv. Studiert im Ruhrpott.

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