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Montag, September 16, 2024
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    Kommen Waffenstillstand und Verhandlungen über die Ukraine?

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    Die Ukraine kann derzeit einen Vorstoß vermelden. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen pro Friedensverhandlung auf der ganzen Welt. Wer oder was entscheidet am Ende über Sieg, Niederlage oder Verhandlungen? – Eine Einordnung von Ahmad Al-Balah.

    Die Meldungen über mögliche Verhandlungen kamen kurz vor der ukrainischen Offensive: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einem Interview mit französischen Medien, er bestehe nicht mehr darauf, die territoriale Integrität der Ukraine „mit Waffen“ zu erkämpfen. Denkbar seien stattdessen auch diplomatische Schritte.

    Nachdem der Versuch gescheitert war, auf einem vorgeblichen „Friedensgipfel“ in der Schweiz den Globalen Süden gegen Russland in Stellung zu bringen, teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj Ende Juli mit, er schließe Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin nicht mehr aus. Selenskyj begrüße zudem die Teilnahme russischer Delegierter an einem Friedensgipfel. Auch eine Vermittlung durch China schließt er nicht aus. In den USA und Deutschland werden die Rufe nach Verhandlungen ebenfalls klarer.

    Ukraine-Krieg: Stehen die Zeichen auf Verhandlungen?

    Militärisch ausgebrannt, innenpolitisch angespannt, außenpolitisch abhängig

    Mehrere Faktoren dürften Selenskyj zum Umdenken gestimmt haben. Aktuell sind laut Militärexperte Markus Reisner 70 bis 80 Prozent der kritischen Infrastruktur der Ukraine durch russische Luftangriffe zerstört. Die Lage an der Front verschlechtert sich laut Berichten für die ukrainischen Streitkräfte zusehends. Russland ist weiter in der Offensive, obgleich die ukrainische Gegenoffensive etwas Wind aus den Segeln genommen hat.

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    Für die ukrainischen Truppen, urteilt Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR), „kommen jetzt viele Probleme auf einmal zusammen: abgekämpfte Einheiten, hohe Verluste von qualifiziertem Personal vor allem im Frühjahr, fehlende Munition, fehlendes Material (vor allem gepanzerte Fahrzeuge), Verwundbarkeit gegenüber russischen Angriffen.”

    Seiner Einschätzung zufolge werde man auf der russischen Seite zunächst einmal abwarten, wer amerikanischer Präsident wird, wie es dort weitergeht, und „was man dann eventuell bekommen könnte“. Die Vorbedingungen, die Moskau derzeit für Verhandlungen stellt, seien ein „klares Zeichen, dass man eigentlich nicht verhandeln will“, so Gressel. Für die Ukraine wären Friedensverhandlungen wiederrum „innenpolitischer Zündstoff“.

    Tatsächlich deutet sich in der Ukraine der nächste machtpolitische Kampf an. Vor Selenskyjs Meinungsänderung legte ihm Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko nahe, ein Referendum abzuhalten. Klitschko glaube nicht, dass Selenskyj „ohne Legitimation des Volkes so schmerzhafte und wichtige Vereinbarungen“ allein treffen könne. Klitschko sei sich jedoch nicht sicher, ob Präsident Selenskyj dazu bereit sei, Macht abzugeben, die ihm das Kriegsrecht aktuell garantiert. Klitschko und Selenskyj gelten als politische Konkurrenten, dem Ex-Boxweltmeister mit sehr guten Beziehungen nach Deutschland werden Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt. Er habe aber kein Problem mit Selenskyj, sagte er einer italienischen Zeitung. Selenskyj sei es, der eines mit ihm habe.

    Eine Umfrag in der ukrainischen Bevölkerung aus dem Juli zeigte, dass sich 44 % dafür aussprechen, in Friedensverhandlungen mit Russland einzutreten. Im Mai 2023 hatten dies kaum 23 Prozent getan. Eine weitere Umfrage ergab, dass der Anteil derjenigen, die zum Erreichen von Frieden zur Preisgabe von Territorien bereit wären, von rund 9 Prozent im Februar 2023 auf nun 32 Prozent gestiegen war.

    Der Anteil derjenigen, die jeglichen Gebietsverzicht dezidiert ablehnten, war von rund 74 Prozent im Dezember 2023 auf nur noch 55 Prozent gefallen. Hintergrund sind unter anderem die wachsenden Belastungen durch massive Zerstörungen der Infrastruktur. Auf politischer Ebene kommt starke Unklarheit darüber hinzu, wie ein etwaiger US-Präsident Donald Trump sich gegenüber Kiew verhielte.

    Neben dem innenpolitischen Druck wächst derweil auch der außenpolitische Druck auf Selenskyjs Regierung.

    Wer entscheidet über die Ukraine?

    Was militärisch als „center of gravity“ bezeichnet wird, als das entscheidende Gewicht, liegt hinsichtlich der Ukraine bei den Waffenlieferungen aus dem Westen, also allen voran bei den USA, gefolgt von Deutschland.

    Die USA denken global: Was passiert in Westasien, was in der Sahelzone und vor allem was im Pazifik? Sie verfolgen daher weltweit eine Politik der Eindämmung. Die Brandherde dürfen sich nicht ausweiten. In der Ukraine wird versucht, den russischen Imperialisten durch die situativen Waffenlieferungen zu zeigen, dass man nicht eskalieren möchte, sie den Krieg aber auch nicht werden gewinnen können.

    In den USA steht derweil die Präsidentschaftswahl an, mit dem offiziellen Machtwechsel im Januar. Traditionell sind die Republikaner weniger interessiert an der Weltpolizistenrolle der USA. Seit Kurzem werden die Positionen zum Ukraine-Krieg von dieser Seite immer deutlicher. „Die Realität, der wir uns zum jetzigen Zeitpunkt stellen müssen, ist, dass dieser Krieg mit einer Verhandlungslösung endet“, so der republikanische Abgeordnete Marco Rubio. Speziell der Präsidentschaftskandidat Donald Trump will sich aus allen möglichen Konflikten rausziehen, die ihm zu teuer und unnütz für die USA erscheinen. Einen Deal zwischen der Ukraine und Russland würde er aus verschiedenen Gründen nur zu gern schließen.

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    Für das Lager der Demokraten um Joe Biden und Kamala Harris hat der Krieg mit Russland auch kaum noch einen wirklichen Nutzen. Man hat Russland so stark geschwächt, wie es möglich war. Zudem hat man erreicht, dass die europäischen Staaten ihre Energieabhängigkeit von Russland abgebaut und mehr Geld in ihr Militärbudget gesteckt haben.

    Das überwiege jedoch nicht die Nachteile eines langen Krieges, nämlich einer möglichen Eskalation, während die eigentliche Herausforderung China bleibe. Und noch ein Punkt müsse den USA wichtig sein: die Stabilisierung der Energie- und Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt, gekoppelt mit dem globalen Wirtschaftswachstum – beides wichtig für die Aufrechterhaltung der aktuellen Weltordnung, in der die USA um den Erhalt ihrer hegemonialen Rolle kämpft.

    Die regionalen Interessen der EU-Staaten, allen voran Deutschland

    Deutschland hat in gewisser Weise ein anderes Interesse als die USA. Sie schauen weniger weltpolitisch auf den Ukraine-Krieg als vielmehr Regionalpolitisch. Für die BRD gilt es, ihren Einfluss in der Ukraine bzw. der Westukraine zu sichern. Aus der Sicht der Bundesregierung ist die Ukraine ein geostrategisches Schlüsselland für den Einfluss Deutschlands in Osteuropa und am Schwarzen Meer.

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    Gleichzeitig konnte der Krieg genutzt werden, um sich selbst hochzurüsten. Doch inzwischen stellen mehr und mehr bürgerliche Lager hierzulande in Frage, inwiefern eine weitere Unterstützung der Ukraine und der Ukrainer:innen für die BRD noch Vorteile mit sich bringen.

    Um einen Sieg zu erzielen, müssten laut Reisner westliche Politiker:innen vors Volk treten und sagen, „wir nehmen 30% aus dem Sozialbudget, 50% aus dem Klimabudget. Dieses Geld investieren dann in Kriegsanleihen. Damit produzieren wir dann im 3-Schichtbetrieb ohne Rücksicht auf die Gewerkschaft. So, dass wir nicht nur die Ukraine unterstützen können, sondern uns auch selbst.” Das sei das Dilemma. “Aber welcher Politiker macht das schon?“, stellt der Oberst des österreichischen Bundesheeres in Frage.

    Im deutschen Bundestag warf der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich, die Frage auf, ob es nicht an der Zeit sei, „dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ Die SPD hat ein Interesse daran, sich vor der Bundestagswahl 2025 als „Friedenspartei” zu inszenieren und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der AfD damit Stimmen abzujagen, die sich im Grunde für eine russisch-deutsche Partnerschaft aussprechen.

    Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) forderte nun eine Kürzung der Waffenhilfe an die Ukraine. Gegenüber den Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er: „Wir können nicht länger Mittel für Waffen an die Ukraine in die Hand nehmen, damit diese Waffen aufgebraucht werden und nichts bringen“. Er begründete dies allerdings nicht mit den kürzlichen Angriffen, sondern wegen der mit den Waffenlieferungen verbundenen Kosten. Er möchte stattdessen auf Diplomatie setzen.

    Denn die Strategie der westlichen Staaten sei es, russische Vorstöße mit Waffenlieferungen auszugleichen. Mittels dieses Ansatzes werde versucht, sowohl der Ukraine als auch Russland immer wieder vor Augen zu führen, dass keine der beiden Seiten diesen Krieg gewinnen kann – bislang mit mäßigem Erfolg, doch die Botschaft ist mittlerweile angekommen.

    Auch in anderen Teilen der EU schwenkt inzwischen die Stimmung um. Während Finnlands Präsident Alexander Stubb im Mai noch erklärt hatte, „der einzige Weg zum Frieden“ führe „über das Schlachtfeld“, urteilte er in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Monde Ende Juli, man sei „an einem Punkt angekommen, an dem Verhandlungen beginnen müssen“. Einen Abzug der russischen Streitkräfte, der auch in Berlin unablässig als Voraussetzung für Verhandlungen gefordert wird, könne man nicht „als Vorbedingung betrachten“, äußerte Stubb nun.

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    China könnte eine Rolle spielen

    Auch tauschte sich nach dem Besuch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Beijing Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Gespräch mit Chinas Präsident Xi Jinping über den Ukraine-Krieg aus. Sie sei der Auffassung, Beijing könne „ein Schlüsselakteur“ bei dem Versuch werden, „Elemente eines gerechten Friedens“ für die Ukraine zu identifizieren, teilte Meloni nach dem Gespräch mit.

    China hat sich als Mediator selbst ins Spiel gebracht. Zum einen verfügt China über erheblichen Einfluss über Russland, zum anderen haben sie mit ihrem 12-Punkte Plan auch der Ukraine gegenüber gezeigt, dass man ihre Interessen vertritt. Selenskyj sagte der französischen Zeitung Le Monde, er schließe eine Vermittlung durch China nicht aus. Kiew lud nach mehrtägigen, als produktiv bezeichneten Gesprächen von Außenminister Dmytro Kuleba in der Volksrepublik China, nun Chinas Außenminister Wang Yi zu einer Fortsetzung der Verhandlungen in die ukrainische Hauptstadt ein.

    China profitiert zwar davon, dass sich alle anderen imperialistischen Konkurrent:innen mit der Ukraine beschäftigen und es sich voll und ganz auf Taiwan konzentrieren kann. Allerdings könnten die Tatsachen, dass viele Staaten darüber ihr Militär aufrüsten, Waffen testen und dass sich ihr Hauptkonkurrent die USA ohnehin langsam zurückzieht, dazu geführt haben, dass China dieser Krieg nicht länger nutzt.

    Auch die Möglichkeit, in der Weltöffentlichkeit als Chefverhandler aufzutreten, könnte dem Land mit Weltmachtambitionen gelegen kommen. Als Vermittler seine Macht zu demonstrieren, könnte das nationale Selbstbewusstsein in China stärken und die des Gegners – allen voran das der USA – schwächen. Auch in anderen umkämpften Staaten, bspw. in Afrika, könnte dies dazu führen, dass das Vertrauen in China gegenüber den USA und der EU weiter steigt.

    Wie könnte ein Waffenstillstand aussehen?

    Während Russland zunächst einen absoluten Sieg anvisierte, scheint mit dem Kriegsverlauf nun die Kontrolle über die vier eroberten Gebiete eine zufriedenstellende Alternative zu sein. Ein Mindestmaß an Kriegszielen (die Besetzung der Ostukraine und die Sicherung der Krim) ist im weitesten Sinne erreicht. Auf lange Sicht könnte die Situation eine zunehmende Isolierung, einseitige Ausrichtung der Wirtschaft auf Kriegswirtschaft und gesellschaftliche Erosion für Russland bedeuten. Russland hat damit perspektivisch ein Interesse an einem Waffenstillstand.

    Obgleich die Ukraine eine Zurückeroberung anvisiert, ist nach Ansicht der RAND-Cooperation ein absoluter Sieg der Ukraine kein realistisches Szenario. Was einen Waffenstillstand anbelangt, so müssten beide Seiten territoriale Einigkeit über die Aufteilung der Gebiete erzielen, die beiden Ansprüchen gerecht wird: Die Ukraine müsste die Rückeroberungen einstellen, Russland ihrerseits weitere Annexionen und Bombardierungen. Das kann jedoch nur erfolgen, insofern beide Seiten an einem bestimmten Punkt von keinem weiteren unmittelbaren Vorteil im Kriegsgeschehen ausgehen. Einer solchen Situation könnte sich der Stellungskrieg in der Ukraine mit vereinzelten Raumgewinnen immer weiter annähern. Zugleich sollte nicht ausgeschlossen bleiben, dass die eine oder andere Seite für sich doch noch größere militärische Erfolge sieht (das gilt insbesondere für Russland) und weitermacht.

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    Die Idee wäre, dass die Ukraine im Prinzip die jetzigen Gebiete an Russland in Form eines Waffenstillstandes de facto abtritt. Ob es eher auf das Modell der deutschen Teilung hinausläuft oder auf die Trennung zwischen Nord- und Südkorea, das wird sich zeigen. „Denken Sie daran, Deutschland war auch geteilt über lange Jahrzehnte, bis es schlussendlich wieder zusammengefunden hat.“, kommentiert Reisner.

    Die Ukraine müsse die Verhandlungen „aus einer Position der Stärke heraus betreten“, da Russland allgemein im Vorteil ist. Genau auf ein solches Szenario scheint sich Selenskyj mittels der derzeitigen ukrainischen Offensive in Kursk vorzubereiten. Für die Arbeiter:innenklasse der Ukraine und Russlands würde eine vorübergehende Verhandlungslösung dabei definitiv eine Entlastung darstellen. Sowohl den russischen Imperialismus als auch die Kapitalisierung der Westukraine durch die EU-Staaten gilt es dann, wenn der zwischenimperialistische Krieg einmal gestoppt ist, in einem nächsten Schritt zu bekämpfen.

    • Ahmad Al-Balah ist Perspektive-Autor seit 2022. Er lebt und schreibt von Berlin aus. Dort arbeitet Ahmad bei einer NGO, hier schreibt er zu Antifaschismus, den Hintergründen von Imperialismus und dem Klassenkampf in Deutschland. Ahmad gilt in Berlin als Fußballtalent - über die Kreisliga ging’s jedoch nie hinaus.

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