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Samstag, April 27, 2024
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    Darf man sagen, was man denken dürfen will?

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    Ein Kommentar zu Kretzschmar und der Meinungsfreiheitdebatte – von Dirk Paul Shevek

    Der SPDler und ehemaliger Finanzsenator von Berlin Thilo Sarrazin ist wahrlich ein Trendsetter. Er warnte nicht nur schon vor Überfremdung und Islamisierung, lange bevor es cool war. Auch mit seinem Kampf gegen politische Korrektheit und dem Schutz der Meinungsfreiheit war er dem Mainstream weit voraus.

    Man könnte ihn ein Pionier nennen, oder aber auch Stichwortgeber des gesellschaftlichen Rechtsrucks, bzw. Türöffner für rechte Positionen ins Bürgertum. Der Erfolg seiner Bücher zeigt sich deshalb nicht nur verkaufsmäßig, sondern auch in ihrer breiten Besprechung und der Übernahme ihrer Thesen im Meinungsbild der politischen Mitte.

    Das Thema Meinungsfreiheit oder besser ihr angebliches Fehlen ist derzeit wieder Gegenstand breiter Diskussionen. Der Springer-Verlag klopft die Republik darauf ab, was man wo noch sagen darf oder nicht. Begonnen hatte es diesmal mit einem Interview des Ex-Handballers Stefan Kretzschmar. In diesem kritisiert er, dass ProfisportlerInnen heute keine politische Meinung mehr vertreten würden, es sei denn es handle sich um Meinungen des Mainstreams. „Eine gesellschafts- oder regierungskritische Meinung darf man in diesem Land nicht mehr haben“, findet Kretzschmar. SportlerInnen hätten sogar „keine wirkliche Meinungsfreiheit“, da sie nicht sagen könnten, was sie vielleicht wollten, ohne Probleme mit dem Verband oder den Sponsoren zu bekommen.

    Obwohl Kretzschmar zuvor groß und breit erzählt, dass er früher in der linken Szene aktiv war, bei Hausbesetzungen und Mai-Demonstrationen in Berlin dabei war, wollen ihn nun viele KommentatorInnen, wie etwa von der Taz oder dem Tagesspiegel, in die rechte Ecke stellen. Die Rechten von AfD bis Bild-Zeitung wiederum wollen seine Äußerungen für sich vereinnahmen. Schließlich seien sie es, die jeher die Fahne der Meinungsfreiheit schwenken und gegen „Sprachpolizei“ und „Tugendterror“ einstehen.

    In den klassischen und den sozialen Medien wird nun darüber gestritten, wie es um die Meinungsfreiheit für SportlerInnen bestellt ist. Sponsoren versichern, dass niemand für seine Meinung Repressionen zu fürchten habe und viele SportlerkollegInnen stimmen dem artig zu. Sie könnten sagen, was sie denken. Vielleicht spricht das aber auch einfach nicht allzu sehr für das, was sie denken. Tatsächlich laufen Hashtags wie #wirsindmehr gut, und viele Prominente stellen sich hinter solche Slogans. Wer aber steht auf gegen Ausbeutung, Krieg, Waffenexporte und Grenzregime? Wer kritisiert die kapitalistische Gesellschaft oder Teilaspekte davon? Man kann sich gut vorstellen, dass radikale Positionen tatsächlich auf heftige Reaktionen stoßen, aber wahrscheinlich überschätzt Kretzschmar auch nur das Vorhandensein von radikalen Positionen bei seinen KollegInnen.

    Ein häufiges Argument, das Kretzschmar sich nun anhören darf, ist, dass man halt schon sagen darf, was man denkt, aber halt mit Gegenreaktion rechnen müsse. Schließlich hätten auch andere ihre Meinungsfreiheit. Dieses Argument hat viel Richtiges. Meinungsfreiheit, wie wir sie den bürgerlichen Revolutionen des 18. Und 19. Jahrhunderts zu verdanken haben, heißt halt, keiner politischen Vorzensur zu unterliegen, und bedeutet nicht Konsequenzlosigkeit. In diesem Sinne darf man sogar juristisch nicht alles sagen. Beleidigungen oder Volksverhetzung etwa stehen unter Strafe.

    Was dieses Argument aber übersieht, ist, dass es die heute um sich greifende Art und Weise der Diskussion ist, die vielen Menschen das Gefühl gibt, in ihrer Meinungsäußerung beschnitten zu werden. Es ist der elendige Moralismus, den nicht nur die Rechten, sondern auch der Linksliberalismus bedienen. Auf Plattformen wie Twitter ist dies etwas Erdrückendes für jede Person, die sich dem ausgesetzt sieht. Äußert man heute seine Meinung, erhält man die Gegenreaktion nämlich nicht in Form von Gegenargumenten, die zwar widersprechen, aber ernst nehmen. Was man stattdessen bekommt, ist moralische Entrüstung und die berühmt-berüchtigten Shit-Storms. Politische Auseinandersetzungen sind so nicht mehr ein Streit von Positionen und Interessen, sondern ein Tauziehen darum, was moralisch und unmoralisch, böse und gut ist. Es wird nicht mehr versucht, das bessere Argument zu bringen, sondern die eigenen Werte gegen die des Gegenübers zu mobilisieren. Twitter und Meme-Kultur eigenen sich aufgrund ihres Zwangs zur Verkürzung gut zur Verbreitung dieser Debattenkultur.

    Es ist aber nicht die Schuld von Twitter, sondern die Verinnerlichung neoliberalen Denkens. Der Neoliberalismus wollte das Ende der Ideologien und Klasseninteressen einläuten. Übrigbleiben sollten nur noch Sachzwang und das Individuum. Arbeitslosigkeit wurde von einem gesellschaftlichen Problem zu einem persönlichen. Arbeitslos wird man nun, weil man faul oder unrasiert ist. Klimawandel hat seine Ursache nicht mehr im Wachstumszwang und der Profitjagd des Kapitals, sondern in der mangelnden Moral der DieselfahrerInnen und BilligflugnutzerInnen. Ein solches Denken hat weitreichende Konsequenzen für die Wahrnehmung und Beurteilung der Wirklichkeit. Moralisierung verhindert nicht nur Debattenkultur, sondern radikale Kritik an den Verhältnissen.

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