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Sonntag, Juni 16, 2024
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    Reaktionen auf möglichen Netanjahu-Haftbefehl: Die Maske ist gefallen

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    Am Montag beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag die Ausstellung eines Haftbefehls gegen drei Hamas-Anführer sowie gegen Benjamin Netanjahu und Yaov Gallant. Insbesondere die deutsche Reaktion spricht Bände. – Ein Kommentar von Herbert Scholle.

    Am Montagmorgen kündigte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) an, die Ausstellung eines Haftbefehls gegen zentrale Figuren im Gaza-Krieg zu untersuchen: Karim Khan, der Chefankläger des IStGH, hatte einen Haftbefehl gegen Yahya Sinwar, den Anführer der Hamas, Ismail Haniyya, einen politischen Führer der Hamas und gegen Mohammed Deif, den Anführer der „Qassam-Brigaden“, also den militärischen Arm der Hamas, beantragt. Auf israelischer Seite wird ein möglicher Haftbefehl gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und gegen Verteidigungsminister Yaov Gallant untersucht.

    Allen werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen: Die Klage gegen Netanjahu und Gallant umfasst unter anderem Vorwürfe von Aushungerung von Zivilist:innen als Kriegswaffe, darüber hinaus Mord und Auslöschung als Kriegsverbrechen. Die Hamas-Führer werden unter anderem wegen Geiselnahme, Folter,  außerdem wegen Vergewaltigung und sexueller Gewalt als Kriegswaffe angeklagt. Richter:innen werden nun in den kommenden Wochen entscheiden, ob ein internationaler Haftbefehl ausgestellt werden wird.

    Deutschland hinterfragt Autorität des IStGH

    Die deutsche Regierung sieht sich nun in einer schwierigen Lage: Auf der einen Seite ist man einer der engsten Verbündeten des israelischen Staats, auf der anderen Seite braucht man internationales Recht und Gerichte wie den IStGH immer wieder zur Legitimierung der eigenen Machenschaften. Genau das geht auch aus einer Pressemitteilung des Auswärtigen Amts (AA) hervor. In dieser betont die deutsche Regierung zwar, den IStGH und seine Unabhängigkeit anzuerkennen, unterschwellig wird das Gericht allerdings aufs Schärfste kritisiert und seine Autorität sogar teils in Frage gestellt.

    Das Auswärtige Amt wirft dem Gerichtshof vor, durch die Klage sei „der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden“ und nutzt für diese Aussage die altbekannte deutsche Geschichtsdarstellung des Konflikts: Die Vorwürfe gegen die Hamas-Führer werden herausgestellt, die Ermordung von zehntausenden Zivilist:innen durch israelische Angriffe wird hingegen überhaupt nicht beleuchtet. Es wird lediglich erwähnt, dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung habe.

    Besonders interessant ist dabei folgender Auszug aus der Pressemitteilung: „Das Gericht wird dabei eine Reihe schwieriger Fragen zu beantworten haben, einschließlich gerade auch der Frage seiner Zuständigkeit und der Komplementarität von Ermittlungen betroffener Rechtsstaaten, wie es Israel einer ist.“ Hier wird also offen infrage gestellt, ob der IStGH denn überhaupt die Autorität habe, Kriegsverbrechen zu untersuchen, wenn sie von „Rechtsstaaten“ wie Israel begangen werden.

    So verschafft sich die deutsche Regierung schon vor der Entscheidung einen gewissen Ausweg durch die Hintertür: Sollte der Gerichtshof tatsächlich einen Haftbefehl ausstellen, könnte die BRD diesen dann auf genau dieser Grundlage einfach ignorieren, ohne dabei den IStGH als völlig illegitim darstellen zu müssen.

    Deutsche Reaktion zeigt Doppelmoral

    Vor allem zeigt die deutsche Reaktion auf den Antrag aber die Doppelbödigkeit der Regierung im Umgang mit internationalem Recht: Zum einen nutzt man es gern, um der eigenen Machtpolitik einen Anstrich von Gerechtigkeit zu verleihen, zum anderen tritt man es selbst immer wieder mit Füßen. Dies kann man beispielsweise auch recht gut an der Reaktion auf ein sehr ähnliches Ereignis ablesen: Als der IStGH im März 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Vladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten erließ, sagte Bundeskanzler Scholz noch: „Der internationale Strafgerichtshof ist die richtige Institution, Kriegsverbrechen zu untersuchen“ und betonte, dass „niemand über Recht und Gesetz steht“.

    Damals kamen also seltsamerweise keine Fragen nach der „Zuständigkeit“ des IStGH gegenüber Rechtsstaaten auf. Ebenso wenig fragwürdig betrachtete es die deutsche Bundesregierung, einen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechens auszustellen. Dies lässt einen entweder zu dem Schluss kommen, dass die BRD zwar etwas gegen die Verschleppung von Kindern hat, nicht aber gegen die Ermordung tausender unschuldiger Zivilist:innen. Oder man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Bundesregierung den IStGH lediglich benutzt, um die Verfolgung der eigenen außenpolitischen Interessen zu legitimieren.

    Spätestens mit dem aktuellen Verhalten ist die “Niemand steht über Recht und Gesetz”-Maske gefallen.

    Frankreich unterstützt den IStGH, die USA denken über Sanktionen nach

    Neben Deutschland müssen sich nun auch andere Länder gegenüber dem Antrag positionieren, insbesondere die politischen und militärischen Großmächte. Das französische Außenministerium kündigte am Montag bereits an, den IStGH vollumfänglich unterstützen zu wollen und betonte, dass es nun beim Gericht liege, die Entscheidung über die Ausstellung eines Haftbefehls zu fällen.

    Dies darf man allerdings nicht schon als eine Verurteilung des israelischen Staats oder seiner Verbrechen werten. Außenminister Stephane Sejourne betonte, dass die Ausstellung gegen beide Seiten keine Äquivalenz zwischen ihnen suggeriere, und nannte Israel „eine Demokratie, welche in einem Krieg, den sie nicht begonnen hat, internationales Recht respektieren muss“. Norwegens Außenminister Espen Barth Eide kündigte ebenfalls an, einen möglichen Haftbefehl umsetzen zu wollen.

    Die Reaktion der USA fällt hingegen deutlich anders aus: Vor dem Senat sagte US-Außenminister Antony Blinken, die USA müsse „nach angemessenen Schritten suchen, um mit einer zutiefst falschen Entscheidung umzugehen“. Auch möchte er gern mit Senator Lindsey Graham, einem Republikaner und rechten Hardliner, an einer Zweiparteienlösung für Sanktionen gegen den IStGH arbeiten. Auch Präsident Biden äußerte sich klar kritisch gegenüber dem Antrag und betonte, dass Israel „alles, was es tun kann, tut, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu versichern“. Außerdem sagte er: „Lasst mich deutlich sein, was passiert, ist kein Genozid“.

    Die verschiedenen Reaktionen zeigen vor allem die sehr verstrickte Bündnispolitik der verschiedenen Großmächte, in der sich Deutschland und die USA als stärkste Verbündete des israelischen Staats positionieren. Es bleibt abzuwarten, wie der IStGH entscheiden wird und wie die Reaktionen auf diese Entscheidung ausfallen werden. Beschließen beispielsweise die USA oder Deutschland, die Entscheidung des IStGH ganz oder teilweise nicht anzuerkennen, würde dies einmal mehr zeigen, was schon seit langem immer klarer wird: Das „internationale Recht” scheint nur ein Spielball zu sein, eine Illusion, die man versucht aufrecht zu erhalten, um zu suggerieren, es könne in einer imperialistischen Welt so etwas wie „Gerechtigkeit” geben. Doch der jetzige Fall zeigt erneut: Gerechtigkeit gibt es nicht von sich aus durch „internationale Gerichte”. Sie muss erkämpft werden.

    *Update: 23:02 Uhr: Auf die konkrete Nachfrage eines Journalisten, “Hält sich die Bundesregierung an das was der Internationale Strafgerichthof entscheidet?”, antwortete Regierungsspreche Steffen Hebestreit: “Natürlich, ja wir halten uns an Recht und Gesetz”.

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