`
Dienstag, März 19, 2024
More

    Obdachlosigkeit in Freiburg: Gewalt, sexuelle Übergriffe und konzeptlose Sozialarbeit

    Teilen

    Mindestens 37.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Gewalterfahrungen stehen dabei auf der Tagesordnung – besonders betroffen sind Frauen durch sexuelle Übergriffe. Notunterkünfte nehmen die wenigsten Betroffenen als sichere Orte wahr. Gegenüber “Perspektive” berichtet Chris* aus Freiburg von seinen Erfahrungen.

    Laut einer Untersuchung des Bundestags waren im Jahr 2022 in Deutschland etwa 260.000 Menschen wohnungslos. Davon lebten rund 37.000 Menschen auf der Straße und weitere 45.000 waren verdeckt wohnungslos. Das bedeutet, dass sie beispielsweise bei Freund:innen oder Bekannten unterkommen. Viele obdachlose leben zeitweise in Notunterkünften.

    Die Menschen, die in einer Notunterkunft in der Nähe der Freiburger Innenstadt unterkommen, leben zu viert auf einem 12m2 Zimmer. Dazu gibt es pro Stockwerk eine gemeinschaftlich nutzbare Küche.

    Privatsphäre ist, wie der ehemals obdachlose Chris* erzählt, in diesen Unterkünften also etwas unvorstellbares. Bundesweit gaben viele der obdachlosen Menschen außerdem an, dass sie Notunterkünfte meiden, da diese zu dreckig und unsicher seien. Die Saarbrücker Zeitung berichtete vor wenigen Wochen über eine Notunterkunft in Völklingen, in der selbst die Zimmertüren fehlen.

    50€ der Quadratmeter

    Besonders schwierig – so berichtet Chris – sei außerdem, dass Menschen, die aus verschiedensten Gründen wohnungslos sind, auf engstem Raum zusammenleben müssen. Diejenigen, die schwere psychische Probleme haben, bekommen keine geeignete Unterstützung, was regelmäßig zu Konflikten zwischen den Bewohner:innen führt. Laut der Studie des Bundestags haben etwa ein Fünftel der obdachlosen Menschen psychische Erkrankungen, ein Drittel eine Suchterkrankung.

    Im Jahr 2018 bekam die Notunterkunft der Stadt Freiburg „Oase“ vom Jobcenter Mietzuschüsse von über 500 Euro pro Person pro Monat. Bei vier Betten je 12m2 Zimmer und kamen der Stadt also, auch bei Einbeziehung der Gemeinschaftsräume, weit über 100 Euro pro Quadratmeter zugute. Menschen, die selbst einen Job haben und in der Unterkunft leben, zahlten zu diesem Zeitpunkt 240 Euro Miete.

    In der Unterkunft sind viele unterbezahlte Gast- bzw. Saisonarbeiter:innen aus Osteuropa untergebracht, die einen Teil des Jahres zum Arbeiten in Deutschland verbringen und den Großteil ihres Geldes an die Familien in ihrer Heimat schicken müssen. Auch sie zahlen der Stadt also eine Miete von über 50 Euro pro Quadratmeter. Im Vergleich dazu liegt die durchschnittliche Kaltmiete in Freiburg zwischen 10 und 15 Euro.

    Frauen besonders betroffen

    80% der obdachlosen Menschen sind laut der Bundestags-Studie Männer. Sozialarbeiterin Christine Heinrichs vom „Verein für soziale Heimstätten“ nannte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk als einen Grund, dass Frauen häufiger im Gegenzug für bestimmte Dienstleistungen bei Bekannten unterkommen würden: „Sexuelle Dienstleistungen oder Dienstleistungen im Haushalt – das sind in der Regel immer Ausbeutungsverhältnisse.“

    Obdachlose Frauen haben es besonders schwer, denn Gewalt und sexuelle Übergriffe sind keine Seltenheit. Mehr als die Hälfte der obdachlosen Frauen gab an sexuelle Übergriffe wie Belästigungen, Missbrauch oder Vergewaltigungen erfahren zu haben.

    Chris berichtet gegenüber Perspektive von den Erfahrungen seiner Freundin Martina*, einer obdachlosen Frau aus Freiburg. Diese erlebte demnach in ihrer ersten Nacht, nachdem sie nach 20 Jahren und kurz nach dem Tod ihres Mannes wegen Eigenbedarf aus ihrer Wohnung geworfen wurde, in einer Notunterkunft einen sexuellen Übergriff in einem der gemeinschaftlich genutzten Räume.

    Als sie die Sozialarbeiter:innen darauf ansprach, wie diese sie davor schützen können, bekam sie nur die Antwort, dass sie das nicht schaffen, da Personal fehle, um die nicht-geschlechtergetrennten Räume im Auge zu behalten. Daraufhin verließ Martina die Notunterkunft und lebte die kommenden Monate auf der Straße, da sie sich dort etwas sicherer fühlte.

    Nachdem Martina die Notunterkunft verlassen hatte, hielt sie sich mehrere Nächte in der Nähe des Bahnhofs auf. Das sogenannte „Glashaus“ am Busbahnhof ist einer der wenigen geschützten Orte. Ein anderer Obdachloser, der schon längere Zeit dort lebte, griff sie allerdings nach kurzer Zeit an, sodass Passant:innen die Polizei alarmierten. Diese stellten Martina dann kurzerhand einen Platzverweis aus, um sich nicht weiter kümmern zu müssen.

    Polizei oder Sozialarbeit können die Probleme nicht lösen

    Auch Chris wurde von ihm zu einem anderen Zeitpunkt mit einer Holzlatte angegriffen. Kritik äußert er vor allem an den Sozialarbeiter:innen in Freiburg. Diese würden, seinem Erleben nach, lieber gemütlich zu dritt am Theater Kaffee verteilen, statt schwierigere Probleme in Angriff zu nehmen. Er hält fest: „Die Kapazitäten sind eigentlich da, aber sich um die bestehenden Probleme zu kümmern will dann doch niemand.“

    Vor allem in den Notunterkünften habe er die Erfahrung gemacht, dass sich die Sozialarbeiter:innen, nachdem das Formale geklärt ist, lieber in ihren Büros zurückziehen bis die Schicht zu Ende ist, als sich durch den persönlichen Kontakt mit den Problemen der Menschen zu beschäftigen und Konflikte unter den Bewohner:innen zu verhindern.

    Gleichzeitig fühlen sich viele Sozialarbeiter:innen mit den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, überfordert. Sei es wegen des herrschenden Personalmangels in den meisten Institutionen oder weil auch sie sich nicht in der Lage sehen gesamtgesellschaftliche Probleme mit stark begrenzten Möglichkeiten zu bekämpfen. Denn egal ob in der Drogenberatung oder in der Obdachlosenhilfe, überall stoßen sie, durch repressive Gesetze gegenüber den Betroffenen oder fehlenden finanziellen Mitteln, an die Grenzen.

    Die Gewalterfahrungen der beiden sind aber keine Einzelfälle. Zwei Drittel der obdachlosen Menschen in Deutschland haben bereits Gewalterfahrungen gemacht. Tatsächliche Lösungsansätze bieten aber weder Politik, noch Sozialarbeit oder Polizei. Auch an anderen Stellen, wie beispielsweise bei Hartz IV, basiert das gesamte System nicht darauf Menschen tatsächlich zu helfen, sondern sie durch das Androhen von Sanktionen und weiterem sozialen Abstieg in die Schranken des kapitalistischen Systems zu zwängen.

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News