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Donnerstag, April 25, 2024
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    Darum ist der Ukraine-Krieg ein imperialistischer Stellvertreterkrieg

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    Vor einem Jahr eskalierte der schwelende Konflikt in der Ukraine mit der Invasion Russlands – hunderttausende Soldat:innen sind seitdem gestorben, Zivilist:innen ermordet, Frauen vergewaltigt worden. Doch wie ist der Krieg einzuschätzen? In der Öffentlichkeit scheint es dazu nur zwei Meinungen zu geben: Entweder #StaywithUkraine und Unterstützung der NATO-Aktivitäten oder Putin-Verklärung. Dabei sind beide Erklärungen falsch. –  Unser Kommentator Tim Losowksy analysiert die imperialistischen Interessen der verschiedenen Seiten.

    Am 24. Februar 2022 begann die Armee der Russischen Föderation eine Bodenoffensive in der Ukraine. Ein geplanter „Enthauptungsschlag“ – mit der Eroberung der ukrainischen Hauptstadt Kiews und der Absetzung der dortigen Regierung – scheiterte. Seitdem finden blutige Gefechte vorwiegend im Osten des Landes statt. Mittlerweile wird mit mehr als 100.000 getöteten Soldat:innen auf beiden Seiten gerechnet. Hinzu kommen tausende ermordete Zivilist:innen, sowie Millionen Geflüchtete.

    Die Eskalation vom 24. Februar 2022 hat eine lange Vorgeschichte. Grundsätzlich war die Ukraine historisch schon immer ein umkämpftes Gebiet: So gehörten Teile des heutigen Territoriums der Ukraine anfangs unter anderem zum Römischen, Byzantischen, Osmanischen und Russischen Reich. In der jüngeren Geschichte gehörte die Westukraine bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn und zwischen den Weltkriegen in Teilen zu Polen und Rumänien.

    Zu Zeiten der Sowjetunion wurde derweil die Eigenständigkeit der Ukraine betont und die Schaffung des ukrainischen Nationalstaats gefördert, da die Kommunist:innen für das Recht auf Selbstbestimmung eintraten – ein Umstand, den Putin in seiner Rede zur Rechtfertigung seines Überfalls scharf angriff.

    Seit Jahrzehnten umkämpft zwischen Russland und NATO

    Nach dem Ende der Sowjetunion stand die Neuaufteilung von Mittel- und Osteuropa auf der Tagesordnung. Dabei gab es ein stetiges Ringen um den Einfluss zwischen Russland auf der einen und den USA und anderen europäischen Mächten auf der anderen Seite: sei es bei den „bunten Revolutionen“, der Integration verschiedener osteuropäischer Länder in die NATO bis hin zum Maidan-Putsch im Jahr 2014. In dessen Folge besetzte Russland die Krim, um sich zumindest diesen Teil und damit den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern.

    Außerdem kam es zur Ausrufung der „Volksrepubliken“ im Donezk und Luhansk, die sich für unabhängig erklärten. Schien es am Anfang durchaus eine eigene politisch-militärische Führung zu geben, wurden diese Projekte schnell der russischen Geostrategie vollständig untergeordnet. Auf diese Abspaltungen reagierte das ukrainische Militär mit massivem Beschuss – und die Amerikaner forcierten eine systematische Aufrüstung und Ausbildung der ukrainischen Armee. Der Kampf um die Ukraine dauert also bereits seit 2014 an, mit der russischen Invasion ist er in eine qualitativ neue Phase eingetreten.

    Ukraine als „Schlüsselstaat“

    Warum war und ist die Ukraine heute so umkämpft? Strategischer Hintergrund ist ihre geographische Lage: Sie ist ein zentrales Durchmarschgebiet zwischen Mitteleuropa, Russland, dem Kaukasus und dem Balkan. Damit ist sie aus russischer Sicht sowohl ein Puffergebiet für ihre West-Flanke, als auch ein Stützpunkt zur Kontrolle über Mittel- und Osteuropa, außerdem ein Zugang zum Schwarzen Meer.

    Die US-amerikanische „graue Eminenz“ der imperialistischen Geostrategie, der polnisch-US-amerikanische Politikwissenschaftler Zbigniew Brzezinski, hat die Ukraine in seinem Werk „The Grand Chessboard“ (dt. “das große Schachbrett”) daher als „pivot state“ (dt. „Schlüsselstaat“) ausgemacht – sowohl für Russland, als auch für all diejenigen, die Russland schwächen wollen:

    „Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Es kann zwar immer noch imperialen Status beanspruchen, würde dann aber in Konflikte mit den zentralasiatischen Staaten verwickelt. Auch China würde sich erneuter russischer Dominanz in Zentralasien entgegenstellen. Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine imperiale Macht.“

    Man nennt es Imperialismus

    Brzezinski spricht offen über das, was in allen medialen und politischen Debatten um die Ukraine gerne außen vorgelassen wird: die imperialistischen Interessen verschiedener Großmächte auf dieser Welt, die nach Welthegemonie streben.

    Dabei geht es nicht um die „bösen Ideen“ Einzelner oder eine “schlimme Politik”. Tatsächlich ist es das ökonomische System, das sich weltweit durchgesetzt hat, das die ständige Neuaufteilung der Welt auf die Tagesordnung setzt. In diesem System eines imperialistischen Kapitalismus müssen die immer gigantischer werdenden Konzerne nach Absatzmärkten, neuen Handelsrouten, gesicherten Rohstoffquellen und günstigen Arbeitskräften streben, um sich im Konkurrenzkampf gegeneinander zu behaupten und durchzusetzen.

    Dies geschieht mit politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen oder letztlich auch militärischen Mitteln. Für all diese Elemente spielen die imperialistischen Nationalstaaten eine zentrale Rolle, die wiederum im Interesse „ihrer“ jeweiligen großen Konzerne agieren. Dabei entscheiden nicht einzelne Konzerne, sondern der Staat agiert, wie es Karl Marx bereits nannte, als „ideeller Gesamtkapitalist“ im Gesamtinteresse seiner herrschenden Klasse.

    Doch wie sind diese Interessen in Bezug auf die Ukraine einzuschätzen?

    Die Interessen des russischen Imperialismus

    Erst kürzlich stellte der russische Ex-Präsident und noch immer führende Politiker Dmitrij Medwedew fest: „Wenn Russland die militärische Spezialoperation beendet ohne einen Sieg, dann wird es Russland nicht mehr geben, es wird in Teile zerrissen“. Er definiert die Aufgabe, wie es schon Brzezinski getan hat – nur eben diesmal aus russischer Sicht: Imperialistische Macht oder nicht? Das ist hier die Frage.

    Ähnlich hat es der der russische Geostratege und faschistische Ideologe Alexander Dugin formuliert, als er in seinem Werk „Grundlagen der Geopolitik“ die Vision von Russland als der dominierenden Macht in Eurasien entwickelte. Sein Buch wird von der Akademie des Generalstabs der russischen Armee seit vielen Jahren als Lehrbuch verwendet.

    Der russische Überfall auf die Ukraine war also nicht die Idee oder Ausfluss eines „wahnsinnigen Putin“, sondern Konsequenz eines imperialistischen Weltsystems, in dem es heißt: „fressen oder gefressen werden“.

    Dafür ist dem russischen Imperialismus keine Brutalität zu widerwärtig: von dem Einsatz der aus Sträflingen bestehenden faschistischen Söldner-Gruppe Wagner bis hin zu systematischer Bombardierung ziviler Infrastruktur und Gebäude. Hinzu kommen Massenschlachten wie in den bisherigen Weltkriegen mit zehntausenden Toten und allen damit einhergehenden Auswüchsen des Kriegs: Vergewaltigungen, Vertreibungen, Besatzungen.

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    Was will der deutsche Imperialismus?

    Eine nicht unwesentliche Rolle spielt Deutschland in diesem Krieg. Die deutsche Geostrategie ist auf internationale ökonomische Expansion ausgerichtet – das Produzieren und Exportieren weltweit. Zugleich benötigt es für eine gefestigte imperialistische Basis auch eine regionale Hegemonie über die angrenzenden Länder, wodurch die Kontrolle besser hergestellt werden kann. Das ist die wesentliche Idee hinter der „Europäischen Union“ – ein gemeinsamer EU-Wirtschaftsraum unter deutscher Führung.

    Doch diese Führung ist im Westen durch Frankreich blockiert, eine historisch und bis heute starke imperialistische Macht, die sogar noch über eigene Kolonien verfügt. Deutschlands Fühler strecken sich deshalb seit langem in Richtung Osteuropa aus – bis hin nach Russland.

    Der Versuch, Russland zu beherrschen, ist dem deutschen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg schon einmal misslungen. Aus diesem Grunde orientierte sich die deutsche Geostrategie später dahin, mit Russland durchaus zu kooperieren, vor allem nach der Annektion der DDR. Dies geschah insbesondere durch eine Rohstoff-Kooperation mit Russland, welche die deutsche Industrie jahrzehntelang mit billigen Rohstoffen – wie etwa mit Gas – versorgte.

    Die Eskalation in der Ukraine war deshalb nicht im Interesse des deutschen Imperialismus. Doch als sie einmal begonnen war, gab es keinen Weg zurück. Deutschland wurde in die Rolle des Juniorpartners der USA gedrängt. Doch der Bundeskanzler reagierte auf die neue Lage schnell: Durch ein massives Aufrüstungspaket wird sich Deutschland nun militärisch stärken, um perspektivisch aus dem Schatten des US-Imperialismus herauszuwachsen.

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    Die Bedeutung des eigenen Einflusses auf die Ukraine hat jüngst der Grünen-Politiker Anton Hofreiter auf den Punkt gebracht. „Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ‚Was wollt ihr eigentlich essen?‘“. Die ukrainische „Kornkammer der Welt“ als Faustpfand und Druckmittel gegen China – Klartext von Grünen-Seite.

    Eben solchen Klartext sprach auch Annalena Baerbock, als sie erklärte, man sei „im Krieg mit Russland“. Genauso versteht sich auch derzeit der deutsche Imperialismus, spätestens seitdem ihm die Bündnisoption mit Russland endgültig genommen wurde. Deshalb geht er nun auch in die Vollen. Seit den Leopard-Lieferungen an die Ukraine ist Deutschland zum Waffenlieferer Nr. 2 aufgestiegen.

    Zugleich geht es der deutschen Geostrategie darum, die USA und auch Frankreich als große Konkurrenzen „eng zu umarmen“, um sie damit davon abzuhalten, sich selber auf ihre Hauptziele zu konzentrieren. Das ist auch der Hauptgrund hinter dem „Zögern“ des Kanzlers bei den Waffenlieferungen. Tatsächlich ging es darum, die USA mit „ins Boot“ zu zwingen.

    Die Interessen der US-Imperialismus

    Im Krieg um die Ukraine spielen die Interessen der USA und der durch sie geführten NATO eine zentrale Rolle. Auf die Frage, was das allgemeine Ziel der NATO sei, soll bereits der erste Generalsekretär der Allianz, Hastings Ismay, 1952 sehr nüchtern geantwortet haben: „To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“.

    Damit wird der Kernpunkt der US-amerikanischen Geostrategie im Bezug auf Eurasien auf den Punkt gebracht: Verhindern, dass ein imperialistisches Bündnis zwischen Deutschland und Russland entsteht und zugleich selber seine Einflusssphären bis an den Rand Russlands auszudehnen. Dafür ist die Kontrolle über den „Schlüsselstaat“ Ukraine – wie von Brzeziński in dem o.g. Buch mit dem eindeutigen deutschen Titel “Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft” entworfen – zentral.

    Mit der Eskalation des Kriegs wurde das deutsch-russische Rohstoff-Bündnis zerbrochen und mit der Sprengung der Nordstream-Pipelines (wer auch immer sie letztlich durchführte) für lange Jahre ausgeschlossen. Damit ist ein relevantes Ziel der US-Geostrategie vorerst erreicht. Zugleich geht es darum, Russland als imperialistischen Konkurrenten auszuschalten: So erklärte Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten Russland „in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann“.

    Das ist der Hintergrund, warum die USA zum zentralen Akteur in der Kriegsführung der Ukraine geworden sind. Das Starlink-System von Elon Musk hilft der Armee an der Front, Geheimdienstler:innen unterstützen bei Kriegsstrategien, Gewehre, Raketen, Artillerie, Munition – all das wird in Milliardenhöhe aus den USA geliefert. Ohne dies wäre die Ukraine bereits seit langem im Krieg gegen Russland unterlegen gewesen.

    Zugleich haben die USA derzeit kein Interesse an einer Eskalation zu einem dritten Weltkrieg, wie die RAND-Kooperation als US-Think Tank jüngst analysierte. Denn für die USA gibt es einen anderen Hauptkonkurrenten: China. Mit diesem liegen sie wirklich um die Vorherrschaft auf der Welt im Clinch, wenngleich dabei die russischen Atomraketen durchaus „im Wege“ sind.

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    Was will die Selenskyj-Regierung?

    Auch wenn wir nun überall blau-gelbe Fahnen oder Selenskyj in seinem grünen Pulli sehen: die ukrainische Regierung ist vollkommen abhängig von der Unterstützung durch die NATO-Staaten. Sie agiert als deren Stellvertreter, wie jüngst auch ein CIA-Offizier im Gespräch mit dem amerikanischen Bloomberg analysierte.

    Selbst wenn die Ukraine ökonomisch, militärisch und politisch eine Neokolonie ist, gibt es sehr wohl Eigeninteressen und interne Kämpfe: Zuerst besteht natürlich das Interesse, als ukrainischer Nationalstaat bestehen zu bleiben und die eigene herrschende Klasse der Ukraine zu erhalten. Dazu gehören auch die ukrainischen Oligarchen. So wurde Selenksyj vor seiner Wahl 2019 z.B. von dem Oligarchen Ihor Kolomojsky massiv unterstützt. Anfang Februar 2023 wurde nun aber wiederum dessen Haus wegen „Korruptionsermittlungen“ durchsucht.

    Ebenso sind faschistische Kräfte innerhalb des Staatsapparats einflussreich: Nach wie vor spielt das neonazistische Asow-Regiment eine wichtige Rolle, es wurde weltweit als „Verteidiger“ von Mariupol bekannt. (Seine deutsche Bruder-Organisation ist übrigens der „III. Weg“.)

    Gegenüber diesen Faschist:innen kann Selenskyj nicht so einfach „klein beigeben“ – selbst wenn etwa die USA in Zukunft auf Verhandlungen drängen dürften, da ein längerer Krieg auch eine ungewollte Eskalation beinhalten könnte.

    Dass die Relevanz solcher rechter Kräfte nicht klein ist, zeigt sich auch darin, dass der ehemalige deutsche Botschafter Andrij Melnyk nach seinen pro-faschistischen Äußerungen und der Leugnung von Judenpogromen zwar abgezogen wurde, aber dann Vize-Außenminister in der Ukraine wurde.

    Wie ist also der Krieg einzuschätzen?

    Auch wenn die bisherige Darstellung gestrafft und vereinfacht bleiben musste und weitere Akteure wie Frankreich, Großbritannien oder China und kleinere Länder wie Polen erst einmal ausgeblendet wurden – es ist offensichtlich, dass es in der Ukraine nicht um den Kampf von „Demokratie gegen Autokratie“ geht.

    Es handelt sich um einen imperialistischen Stellvertreterkrieg – mit dem russischen Imperialismus auf der einen Seite und den NATO-Staaten, mit den USA an der Spitze, auf der anderen Seite: sie lassen die ukrainischen Soldat:innen für sich kämpfen.

    Am meisten leidet die ukrainische Bevölkerung unter diesem Stellvertreterkrieg. Sie werden bombardiert, massakriert und vertrieben. Zugleich müssen die zwei “Brüdervölker” Ukrainer und Russen als Soldat:innen aufeinander schießen. Die Opposition gegen den Krieg wird in Russland massiv unterdrückt, genau so wie linke Organisationen in der Ukraine, die sich weigern, sich auf eine der kriegsführenden Seiten zu schlagen.

    Zuletzt wirkt sich dieser imperialistische Konflikt auch auf Europa und die Menschen hier in Deutschland aus: durch Aufrüstung, angefachte Preisexplosionen und die Gefahr einer Eskalation zu einem Weltkrieg.

    Hier zeigt sich das gemeinsame Interesse der Arbeiter:innen aller Länder: das Ende dieses Kriegs. Dem im Wege stehen die Interessen der Imperialisten auf beiden Seiten. Gegen sie gilt es, sich zu richten.

    • Perspektive-Autor und -Redakteur seit 2017. Schwerpunkte sind Geostrategie, Rechter Terror und Mieter:innenkämpfe. Motto: "Einzeln und Frei wie ein Baum und gleichzeitig Geschwisterlich wie ein Wald."

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