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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Dortmunder Jobcenter-Angestellte:r packt aus: Mit dem Bürgergeld hat sich gar nichts geändert

Ein offener Brief einer:s Mitarbeitenden des Jobcenters enthüllte brisante Details über ein perfides System in der Behörde: zu viele Klienten auf eine:n Mitarbeiter:in, qualitativ schlechte Beratung und zusätzlich Druck von oben. Auch bei Geflüchteten kommt es wiederholt zu rechtswidrigen Bescheiden, die ein systematischen Vorgehen der Jobcenter nahelegen. – Ein Kommentar von Alexandra Baer

Vergangene Woche hat ein:e Mitarbeiter:in des Jobcenters Dortmund in einem anonym verfassten Brief die Struktur des Jobcenters kritisiert und brisante Details über die Arbeitsweise der Behörde preisgegeben. Die wichtigste Erkenntnis: die Beratung im Jobcenter wird immer schlechter. Daran konnte auch die Einführung des Bürgergelds nichts ändern – vielmehr habe sich beim Bürgergeld nur der Name geändert, während der grundlegende Umgang mit arbeitslosen Menschen im Wesentlichen gleich bleibe.

Weiterbildung habe weiterhin keinen Vorrang, und die Qualität der Beratung sei der Leitung egal, solange die Zahlen stimmten. So habe die Teamleitung des Jobcenters Dortmund wiederholt gesagt, dass es bei der Zuweisung einzelner Bürger:innen zu sog. Maßnahmen nur darum gehe, Listen zu befüllen. Ob die Maßnahme am Ende wirklich etwas bringe, sei nachrangig. Zudem solle in jedem mündlichen Gespräch ein Maßnahmenangebot gemacht werden, ungeachtet dessen, ob es für die individuelle Person Sinn ergibt oder nicht. Bei Bürger:innen führt dieses Vorgehen zu Vertrauensverlust, Unverständnis und Frustration. Ein solcher Umgang mit Maßnahmen sei auch in anderen Abteilungen des Jobcenters gang und gäbe.

Auch der Personalschlüssel befände sich weit oberhalb dessen, was gesetzlich vorgesehen ist. Demnach ist ein Schlüssel von einem Betreuenden auf 75 Klienten bei unter 25-jährigen und 1: 150 Hilfesuchenden bei den über 25-jährigen normiert. In Dortmund betreuen Mitarbeitende jedoch drei- bis viermal (!) so viele Menschen. Darunter leide die Qualität der Beratung und es lasse sich kaum ein Vertrauensverhältnis zwischen Betreuer:in und betreuter Person aufbauen.

Da dennoch eine bestimmt Kontaktdichte zwischen Amt und Klient:innen nachgewiesen werden musse, würden in der Praxis folgende Methoden entwickelt: einerseits werde versucht, Klient:innen – die ironischerweise von der Behörde als „Kunden“bezeichnet werden – telefonisch zu erreichen, um dann in der Akte ein „Kunde telefonisch nicht erreicht, kein neuer Sachstand“ zu vermerken und so oftmals einen Kontakt nur vorzutäuschen. Kommt es länger zu keinem Kontakt, werden andererseits mit sog. „Gruppeninformationen“ viele Klient:innen auf einmal ins Jobcenter eingeladen, wobei dabei die „inhaltlichen Aspekte zweitrangig“ (offener Brief S. 2) seien und vielmehr versucht werde, die Zahlen zu beschönigen.

Kaum Unterschied zwischen Hartz IV und Bürgergeld

Die ursprüngliche Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation durch die Einführung des Bürgergelds sei unter den Mitarbeitenden des Jobcenters mittlerweile in Resignation umgeschlagen. Zwar seien die Leistungssätze etwas gestiegen, diese wären wegen der steigenden Inflation aber so oder so anzuheben gewesen. Auch die Leistungssätze beim Bürgergeld könnten mit der weiteren Inflation kaum das Existenzminimum decken.

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Im Wesentlichen habe sich auch an der repressiven Vorgehensweise des Jobcenters nichts geändert: Sanktionen würden immer noch verhängt – wenn auch jetzt gestaffelt und unter dem Namen „Leistungsminderung“. Auch der Erfolg einer Beratung werde an Kontaktdichte, Maßnahmen-Zuweisung und aufgenommener Arbeit – ungeachtet ihrer Qualität oder Verbesserung der individuellen Lebenssituation – gemessen.

Zu großen Verbesserung ist es durch das Bürgergeld also nicht gekommen, vielmehr lebe das repressive Kontrollsystem „Hartz IV“ unter einem neuen Namen weiter und sorge weiterhin für die Schikane von Betroffenen. Erst vor ein paar Monaten hatte das Jobcenter einer Frau die Gewährung eines Darlehens für einen neuen Kühlschrank unter dem Verweis verweigert, dass es draußen kalt sei.

Systematisch rechtswidrige Bescheide bei Geflüchteten

Nicole H.* arbeitet mit Geflüchteten in Freiburg im Breisgau und berichtet von einer ähnlich katastrophalen Situation bei der Betreuung von Geflüchteten durch das Sozialamt der Ausländerbehörde. Geflüchtete bekommen mit dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) grundsätzlich Leistungen unterhalb des Existenzminimums, die häufig zusätzlich mit pauschalen Arbeitsverboten einhergehen und deren Verfassungsmäßigkeit zweifelhaft ist.

Ein Großteil der Leistungsbescheide seien laut Nicole H. in der Praxis evident rechtswidrig und würden vor Gericht oft nicht standhalten. Beispielsweise hat das Sozialamt der Ausländerbehörde Freiburg vor kurzem die Leistungen einer geflüchteten Person so weit gekürzt, dass diese nur noch etwa 26 € pro Monat in Form von Sachgutscheinen zur Verfügung hatte. Häufig würde außerdem die rückwirkende Gewährung von Leistungen zu Unrecht verweigert, oder Betroffene würden rechtswidrig zur Rückzahlung bestimmter Leistungen aufgefordert werden, wenn z.B. eine andere Behörde für diese Leistungen zuständig gewesen wäre.

In beiden Fällen ist davon auszugehen, dass dem Sozialamt die Rechtswidrigkeit seines Vorgehens bekannt ist – steht es doch mit § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG, § 44 Abs. 1 SGB X und § 9 Abs. 4 Nr. 4 AsylbLG, § 105 Abs. 1 SGB X ausdrücklich im Gesetz. Dass sich dennoch solche Fälle häufen, legt den Schluss nahe, dass die Behörde systematisch handelt und zumindest bedingt davon ausgeht, dass sich Betroffene schon nicht wehren würden.

Auch auf praktischer Ebene haben die Systeme „Ausländerbehörd“ wie auch „Jobcenter“ ihre Mängel: So ist es oft unmöglich, Mitarbeitende der Ausländerbehörde per Mail oder Telefon zu erreichen. Anträge werden monatelang nicht bearbeitet, obwohl der Behörde grundsätzlich maximal drei Monate zur Verfügung stehen.

Online einen Termin zu vereinbaren, ist zumindest in der Ausländerbehörde Freiburg im Breisgau undenkbar, sodass Betroffene immer persönlich für einen Termin anstehen müssen. Dies ist wortwörtlich zu verstehen, denn zufälligerweise ist in Freiburg auch der Ticketautomat kaputt, der Betroffenen eine Nummer ausspucken soll – und das schon seit mehreren Jahren. So stehen regelmäßig Personen auf Krücken oder Familien mit Kindern über Stunden in der Warteschlange an.

Jobcenter hält Armut aufrecht

Ob Sozialamt der Ausländerbehörde oder Jobcenter – überall zeigen sich Mängel in der Arbeitsweise oder auch Schikane der Betroffenen. Auch mit der Einführung von Bürgergeld hat sich nicht mehr geändert als der Name: Die Leistungssätze können die Inflation kaum ausgleichen und sind im allgemeinen zu niedrig. Es können weiterhin Sanktionen verhängt werden und Betroffene werden in Jobs gezwungen, die weit unterhalb ihrer Qualifikation liegen oder für die sie umziehen müssten. Dadurch werden Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt, und ihrer Ausbeutung wird Tür und Tor geöffnet.

Bürgergeld: Motivationskiller, Fortschritt für Arbeitslose oder Etikettenschwindel?

Der anonyme Brief aus dem Mitarbeiter:innenkreis des Jobcenters bestätigt dabei nur noch einmal, was die Erfahrung betroffener Menschen mit dem Jobcenter schon lange gezeigt hat: Die „Beratungen“ sollen die richtigen Zahlen produzieren und haben grundsätzlich nicht zum Ziel, individuelle Lebenssituationen zu verbessern.

*Name geändert

Alexandra Baer
Alexandra Baer
Autorin Seit 2023. Angehende Juristin, interessiert sich besonders für Migration und Arbeitskämpfe. Alexandra ist leidenschaftliche Fußballspielerin und vermisst die kalte norddeutsche Art in BaWü.

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